Donnerstag, 23. Januar 2014

Oh dear! Oh dear! I shall be too late! - Musikliste 2013


Die Erwartungen waren groß und sie wurden ein klein wenig enttäuscht. Doch ich genoss es schon allein, große Erwartungen zu haben oder wieder Freude auf Konzerten. Etwas müde setzte 2013 Ideen fort, die in den Jahren davor angedacht wurden. Zugleich scheinen sich einzelnene Namen zu etablieren, ein Prozess der Erosion. Ein gemeiner Effekt des Alterns, man meint, Regeln zu erkennen, ahnt die Fragilität all der Illusionen aus denen Pop nunmal besteht. Komplett? Keine Ahnung. 




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 LP's
 

1. These New Puritans - Field of Reeds (Infectious)
Schlafwandlerisch, ja bewusst undeutlich, singt Jack Barnett umkreist von Waldhörnern, ein Chor antwortet lautmalerisch. Nur selten attackieren harte Beats, gleich der Windböe im Field of Reeds, die Ruhe aus der hier alles erwächst. Keine friedliche Ruhe.
 

2. Lucrecia Dalt - Syzygy (HEM)
Rhythmen, die emsigen Insekten gleich durch die Stücke huschen. Derweil hypnotisiert uns Dalts schlafwandelnde Stimme. Musik gemacht, um sie des Nachts in dunklen Räumen zu erleben, irgendwo glimmt eine LED oder Röhren flackern blass.


3. Julia Holter - Loud City Song (Domino)
Einbruch des Weltlichen. Befremdet, gleich einer Zeitgereisten, wandelt Julia Holter durch die wohlhabenden Vororte von Los Angeles. Dennoch bleibt sie selbst die Fremde, fern der Unmittelbarkeit einer Soulsängerin, aber mit einer subtil bewegenden Vision.

4. Braids - Flourish // Perish  (Arbrutus/Full Time Hobby)
In glockenklarer, aber durchaus fein nuancierenden Eleganz tanzt Raphaelle Standell-Prestons Gesang sowohl durch die freundlichen Stücke der „Fourish“ Platte, wie auch die dunkleren Stimungen des „Perish“ Albums. So vermag ein Stück im Club zu tanzen, während der Kopf in den Farben von Pentangles „Reflection“ träumt.
 

5. Girls Names - The new Life (Tough Love Records)
Unterwegs in einem Wald. Es ist dunkel. Und auch die Bäume blicken trist. Jenseits (oder inmitten?) solcher Kalauer haben sich Girls Names aus ihrer Post C86 Verpuppung befreit und  sehr elegante graue Flügel geöffnet. Sie nehmen sich die Zeit, in schönen Pirouetten durch die Nacht zu flattern.
 

6. Blue Hawaii - Untogether  (Arbrutus)
Aber letztlich doch zusammen. Das Paar von Braids in einem so intensiv verflochtenen Werk, daß "Untogether" als Beschreibung eigentlich kaum denkbar ist. Als fragile Glassfigur gestaltete Musik versucht sich an Näherungen. Das ist mehr, als die Eitelkeit vergleichbarer Duett-Alben vor 15 Jahren.
 

7. Chelsea Wolfe - Pain Is Beauty (Sargent House)
Auch zum Teil eine 90er Idee, diese blutete damals ein in Klischees aus und wird seit einiger Zeit mit Twang Gitarren Klischees einer neuen Generation belegt. Doch eigentlich ist hier wenig sicher, eher ein Weg durch einen Irrgarten aus Eibenhecken. Eine trotz allem zurückhaltende Form der Selbstdarstellung.
 

8. Naadyn - Galaxy (Phantasma Disques)
Wäre vielleicht auch von dem Gedanken angetan, weniger zurückhaltend zu agieren. Aber als Geisterwesen, was bleibt ihr anderes übrig? Diese seltsame Nischenwelt dieser Daseinsform ist nicht weniger eigentümlich im Musikalischen, oder doch so einfach? Geisterhouse? Sie scheinen darin aber zu tanzen, ab und an.
 

9. Soft Metals - Lenses (Captured Tracks)
Irgendwas, um sich darauf auszuruhen, irgendwas aus Krautelektronik und Disco aber in einem anderen Kleid oder ist es ein Hosenanzug? Ein unaufdringliches Close Up von jenen, die gekommen waren um zu gehen.

 Ausser Konkurrenz: Fear of Men - Early Fragments (Kanine Records)

Erstmal nur die Single Compilation. Nicht "going steady" aber "being exciting". Formal ist das alles so endlos durchgespielt worden, die charmanten Jangle Gitarren, der Mädchengesang, was es ist, daß sie mich weinen machen, ich weiss es selber nicht genau. "Bessere Songs", hätte ich wohl früher behauptet.





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Singles

 1. Diana - Perpetual Surrender (Jagjaguwar)

Dieses abstrakte, scheppernde Outro, warum dauert es nicht noch ein paar Momente länger in einem Song, der in so unmittelbarer Maniriertheit davon berichtet, was alles sein könnte, wenn das Empfinden nun nur noch ein paar Sekunden mehr weilt. Welches Empfinden? Na, sag's doch: Sehnsucht - musst Du nicht so rumhadern.

 2. FKA Twigs - EP2 (Young Turks)

Rote Lippen, goldener Schmuck und ellenlange Wimpern als mechanischer Apparat? Oder das Geschöpf eines mitleidenden de Sade, vielleicht ein Alien dessen Augen, nachdem sie eine kristallne Träne weinten ins riesenhafte anschwillen oder doch nur das etwas einsame Mädchen aus Gloucestershire?

 3. New Jackson - Sat around here waiting (Hivern Discs)

Stimmen wie von verstaubten Nadeln abgetastet zu einer angriffslustigen Tanzflächenmelancholie, die Dir einfach ein Bein stellt, weil sich ja auch darin eine Extase finden ließe. Doch Du wartest, wie immer.

 4. Chinawoman - Kiss in Taksim Square (Self released)

Etwas von Borsigs "Hiroshima", so denke ich stets, dabei ist der Hedonismus in der politischen Geste hier bewusst und eigentlich unverfänglich, Freiheit und darin hinein sägende Gitarren. "Wir waren so glücklich"...

 5. Les Fils du Calvaire - Femme d'Affaires (Circus Company)

Das war vielleicht gar nicht politisch gedacht und musste dann doch auf Chinawomans Pfad auf eine neue Welle von Ausgrenzungen, nicht nur in Frankreich, antworten. Grimmig aber schon im eigentlichen Anliegen, der Beschreibung des Rumschweifens.

 6. JaKönigJa - Ich bin Stoff und du bist Geist (Hanseplatte)

Der schweift auch , aber in Worten durch ein Haus aus Worten. Diese Faccette des Lebens in den alten Gemäuern an den sturmumtobten Hamburger Klippen lässt sich von der eigenen Beschwingtheit nicht ins Bockshorn jagen. Vertraute Fremde.
 
 7. Boy Friend ‎– Secret City EP (Night People)

Tragödien, solche zu denen Tauben weinen hinter den Schleiern, die sich als modisches Accessiore doch eigentlich gar nicht im Klang manifestieren müssten. Dabei verdecken sie hier wirklich, statt zu verschleiern, denn die Dramen leben so vielstimmig, wie auf dem wundervollen Album aus dem Vorjahr.

 8. Sampha ‎– Dual EP (Young Turks)

Manchmal dachte ich, das sei nun doch ein Clubtrack oder eine Singer Songwriter Platte, aber es lotet den R&B Rest nur in beide Richtungen aus ohne seine Mitte zu verlieren. So verletzt wie er klingt, fast ein Wunder. Ab und an frag ich mich, was Michael McDonald daraus produziert hätte.

 9. Sally Dige ‎– Forget Me / Losing You (Night School)

Das Problem, nicht vergessen zu werden oder was es nur ist, das da an einem zerrt. Auch tausendmal praktizierte Verneblungskunde, im Vorführeffekt aber so nachdrücklich! Schwarze Romantik bei Füssli.

10. Golden Teacher - Bells from the deep end (Optimo)

Zähnefletschend feixend über "Just an Illusion" mit Drahtseilen die Tanzfläche umspannen, falls es später beim weiteren Geschehen zu Stürzen kommen sollte. Es ist wohl mitunter viel besser zu fragen, ob man an die Grenze gehen kann, als diese Grenze wirklich aufzuzeigen.

11. Valentina - Wolves (Greco Roman)

Das Problem, nicht vergessen zu werden, da Fangzähne an einem zerren. Hier die praktizierte Fusion im Nebel der Ereignisse: Werde ich mich verwandeln oder kriegen sie mich? Schwarze Romantik bei Kate Bush.
 
12. JODY - Magique EP (Self released)

Auch so ein bewusst unfertiger R&B. The Rain revisited, Nieseltränen auf dem Heimweg. So viel Elegie gab es nicht mehr nachdem die Penguins bei 4AD aufgehört hatten. Oder nannten sie sich dann nur M.A.R.R.S.?

Photos: These New Puritains von Sabrina Roels

Mittwoch, 8. Januar 2014

Trou de mémoire?

Im Januar 1983 mochte ich von dem Bisschen was ich so mitbekam nur eine Neuerscheinung, die zweite LP von Lio, "Amour Toujours". Zumindest gefiel ich mir in der Pose als willfähriger Kunde des von Jay Alanski entworfenen Neo-Chanson Stils für Lio. Alles an der Platte erschien mir als Antithese, mal fröhlich, mal introvertiert. Wie gut das in die Zeit passte, bekam ich gar nicht so recht mit. Das Cover präsentierte eine verspielt stilisierte Ästhetik der 50er. Lio lächelt wie aus einem Jacques Tati oder vielleicht René Clément Film. Die Pappmaché Rose auf dem Photo duftete sogar, nachdem man an ihr gekratzt hatte. Ich konnte es in meiner naiven Idealisierung der (Musik-)Welt oder einfach aus ästhetischen Gründen kaum ertragen, daß diese Platte nicht auf einem Indie Label erschienen war. Ausgerechnet das von vielen 20 Superhits Sammlungen bekannte, trashig silberne Ariola Etikett prangte auf dem Vinyl. Ich versuchte mich an der Verbesserung meiner Teenie Welt und bastelte selber Etiketten, angelehnt an den Atatak Stil, so hoffte ich, da mich das Cover von "Amour Toujours" an Moritz Rrr's Grafik erinnerte. Natürlich missglückte das Vorhaben und ich stellte nur eines fertig, etwas schuldig fühle ich mich heute noch, wenn ich die Platte ab und an mal auspacke. An all das dachte ich, da ich eben zufällig erstmals ein Video der Platte sah. Und was zeigt es? - Lio vor einem HSV Wimpel, vermutlich in der "Kennen sie Köln?" Bar! Wie gerne wär' ich an den Drehtagen in Hamburg Statist gewesen, allein, sie hätten mich Bubi eh nicht gelassen.

 http://www.dailymotion.com/video/x2coz9_lio-zip-a-doo-wah-1983_music

Montag, 24. Juni 2013

Bobby Bland 1930 - 2013 "Ask me 'bout nothing but the Blues"

Mein liebstes Stück von meinem liebsten Soul Sänger. Trotz des mir bekannten Upbeats von Motown und Northern Soul stellte ich mir als Teenie immer eine andere Soul Musik vor, eine, die geheime Türen zu größten Dramen und unbekannten Empfindungen öffnen würde. Ich las Rezensionen über zwei Compilations auf dem hippen Reissue Label Kent, welche diese unbekannte Welt enthalten sollten, wenn ich die beschreibenden Worte in der Spex recht verstand. Tatsächlich schreckte mich das Eröffnungsstück von "Cry Cry Crying" (Kent 030) wortwörtlich zutiefst, Allen Toussaints "From a whisper to a scream" war wie jener Moment in Albert Lewins "The picture of Doran Gray" wenn plötzlich das farbige Bild in den schwarz-weissen Film einbricht: ein ästhetischer Schock. Aber genau das suchte der Gymnasium-Spätwaver ja. Auf "Pure Soul" (Kent 019), welche ich ein paar Wochen später (ebenfalls bei Pure Freude) kaufte, war es ein anderes Stück, was mich über all die andere wunderbare und emotional oft überfordernde Musik hinweg faszinierte: Bobby Blands "Ask me 'bout nothing (but the Blues)" erzählte mir von etwas, das ich nicht kannte, die Verzweiflung eines Erwachsenen, eines Menschen dem Ausgrenzung und Niederlagen nicht fremd waren, eine Geschichte der schwarzen Musik in einem Song - und irgendwas in all dem naiven Teenager Empfinden verstand oder war gerührt von einer Dramatik, die anders war als auf dem "Lexicon of Love" aber auch meilenweit von Ben Watts Introspektion oder Eyeless in Gazas Leiden. Über die Jahre hinweg hat sich das Lied gehalten, es gesellte sich Sam Cookes "A change is gonna come" an seine Seite und es fiel mir ein, als ich, nun selber Spex Seiten vollschreibend, nach den tollsten Singles aller Zeiten gefragt wurde. Da hatte ich es jahrelang nicht gehört und ich weiss, wie ich auf meinen Bett lag, den karierten Zettel, weil er mathestundenerprobt immer gut war für Listen, neben mir und ich selber überrascht, vielleicht, weil ich dachte, es ginge immer weiter oder weil der Song doch eigentlich so unscheinbar war, fern aller formaler Revolution. Aber manches geht nicht weiter, manches wurde einmal so gesagt, wie es vielleicht kein zweites Mal zu sagen ist. Bobby Bland hat diese Aufgabe an anderen Songs noch ein paar Mal gemeistert und er war auch in Nachmittagskaffeelaune immer noch in der Lage, den Zauber eines verliebten Sonnenaufgangs zu vertonen. Doch dieser Moment der absoluten Einsamkeit, der Antwort, welche keine Lösung beinhaltet, dieses so zurückhaltende wie zugleich nahezu anmassende Statement, das habe ich irgendwo dort untergebracht und gut gehütet, wo man es mit Soul tun solle. Ich wage nicht zu behaupten, das Lied je in seiner Gänze verstanden, im Sinne von Soul verstanden zu haben und ich bin froh, wenn ich es nie verstehen lerne, aber ich mag es gut gebettet und zwischen Innigkeit und respektvoller Distanz gehütet wissen. Nein, das ist nicht mein Leben, aber es ist eine Lektion in Leben. Danke Bobby Bland.


Ein Link zum Song: Bobby Bland - Ask me 'bout nothing (but the Blues)

Sonntag, 3. März 2013

Vor fast 15 Jahren (Spex 216 revisited)

Vor einigen Wochen fragte ein Facebook Freund nach Glam Rock in Deutschland. Gab es da was? - Schweigen. Tatsächlich war Glam eines der vielen importierten Pop-Phänomene. Aus einer Pressevorführung von Todd Haynes "Velvet Goldmine" erwuchs 1998 die Idee eines Spex Specials. Ich erinnere mich an die Begeisterung, die ich vor allem mit Kurt Kreikenbom teilte. Ein kleiner gemeinsamer Text mit Dechiffrierungshinweisen zu Haynes System der Anspielungen, sowie ein leider nicht mal grandios verklungener Glam Abend im Blue Shell waren Früchte jener Begeisterung. Was mich selbst darüberhinaus dazu brachte, die Frage nach Glam in Deutschland zu stellen, weiß ich nicht mehr genau, aber er führte zu einem der sinnvolleren Vorhaben meines popjournalistischen Tuns: Einige Telefonate, Treffen, Recherchearbeit eben, um eine kleine, kaum wirklich greifbare Geschichte aufzuschreiben. Ich habe über die Jahre öfters an den Text gedacht, nicht zuletzt wegen der Begegnung mit Klaus Dinger. Heute erscheint mir der Text zum Teil als eine vertane Chance. Es auf die Begrenzung der Zeichenzahl zu schieben, wäre nicht ganz richtig. Vielleicht war es der Versuch, meinen persönlichen Hippie Flirt der vorhergehenden 12 Jahre abzuschütteln oder nur ein didaktischer Trick um Grenzen aufzuzeigen, doch es stören mich heute Begriffe und Wertungen. Andererseits bleibt der Text eben ein kleiner Einblick in eine Zeit, welche zu wutschnaubenden Leserbriefen in der SOUNDS führte und die einen Wandel ankündigte, dessen Revival in den 90ern dann doch etwas trist ausfiel. Gerade posiert auf dem H&M Poster ein Mädchen mit Tammy Wynette Frisur, trashigem Nietenjackett und E-Gitarre. Es geht wieder los. Also, vielleicht als Anlass zu weiterer Recherche oder einfach nur so:

A GERMAN GLITZER-GESCHICHTE

ALLES HALBSTARKE

Vor einigen Wochen sah ich im Fernsehen Ausschnitte aus einer Wochenschau von 1958. Elvis, der suspekte amerikanische Jugendverführer, musste gerade seinen Gl-Dienst in Deutschland ableisten und wurde offensichtlich direkt nach seiner Ankunft zu einem Rock 'n'Roll- Nachwuchswettbewerb geschleppt. Der zynische Kommentar des Sprechers mündet in eine an Elvis gerichtete Weisheit: »Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus.«

Was mich an den Bildern dieses Wettbewerbs faszinierte, war nicht, daß es eine musikalische Reaktion auf Rock 'n'Roll in Deutschland gab, sondern, wie dieser wilde Lärm, der nur noch vom radebrechenden Englisch des jeweiligen Sängers übertönt wurde, explodierte, und dabei in keiner Relation selbst zu den gelungensten Aufnahmen heimischer Rock'n'Roller wie Ted Herold oder Jeff Jackson [Paul Würges] stand. Der Lärm fand seine Entsprechung eher in den Ausschreitungen, die zwischen '56 und '58 regelmäßig im Anschluß an Rock'n'Roll- Filmvorführungen in diversen Großstädten stattfanden. Diese betont männliche Kultur der »Halbstarken« stellte keinen politischen Anspruch, der dem existentialistischer Studentencafés vergleichbar gewesen wäre, sie forderte nur: »Wir wollen Rock'n'Roll!«

Während die späteren Glam-Protagonisten sich noch in einer Lebensphase irgendwo zwischen Kinderwagen und Grundschule befanden, verloren fast zeitgleich mit der legendären ersten Rock'n'Roll-Krise die Befreiungsversuche der »Halbstarken« aus dem Nachkriegsmief an Bedeutung. Einzelne begründeten noch die Motorrad-und-Lederkombi-Rockerkultur, die meisten aber wurden einfach erwachsen und verschwanden spurlos in der Arbeitswelt des Wirtschaftswunders.

KEINE MODS, LAUTER HIPPIES

Da Merseybeat und British Invasion gegen Mitte der Sechziger hierzulande keine nennenswerte Mod-Bewegung hervorbrachten, hieß die nächste relevante Jugend beziehungsweise Protestkultur Hippie. Was da in der zweiten Hälfte der Sechziger als freudig-rebellische Selbsterfahrungs-Partykultur startete, versackte später entweder in politischem Dogmatismus oder gruppentherapeutischem Diskussionszwang, Inhaltismus oder Esoterik. Im Zeichen der Woodstock-Schlammschlacht erschien Stil als obsolet, und all die grausigen Hippie-Klischees begannen sich durchzusetzen, die später in der Friedensbewegung oder in den Pädagogischen Fakultäten ihren endgültigen Tiefpunkt fanden. Derweil etablierten sich Hippies recht schnell auch als Radioredakteure und schufen mit SOUNDS die erste deutsche Zeitung für populäre Musik, die sich nicht an ein Teenie-Publikum wandte. Für die Musikbewertung galt fortan die Formel: kommerziell = anspruchslos. Diesen Bruch mit den Teeniewerten begrenzt auch heute noch (beziehungsweise wieder) das Urteil vieler, egal ob Indie-Klientel oder Elektro-Avantgarde-Fan.

Zu Beginn der Siebziger hießen die Wahlmöglichkeiten für den jungen Hippie, der von den coolen Älteren, die zwei Jahrgangstufen über ihm waren und auf dem Schulhof das Sagen hatten, beachtet und akzeptiert werden wollte: Progressive oder ein Mix aus Westcoast- und Southern-Rock. Natürlich ging auch beides durcheinander, aber wichtig war: Hier spielten versierte, sprich: ernsthafte Musiker Stücke, die schon allein durch ihre Länge völlig unkommerziell waren. Ich bin mir nicht sicher, ob den Schulhofkönigen jemals in den Sinn kam, irgendwer könnte sich über so ein tiefempfunden stimmiges Weltbild hinwegsetzen.

Als 1972 der geschminkte Alice Cooper mit seiner Horror-Hardrockshow auch den ein oder anderen seriösen SOUNDS-Mitarbeiter zu begeistern vermochte, war das noch kein wirkliches Indiz für einen Paradigmenwechsel, denn in den einschlägigen Artikeln wurde vor allem Coopers Showmanship belobigt. Immerhin verärgerte man so Yes- und Gentle Giant-Fans. Aber niemand dachte daran, denen auch noch das neueste Ding aus England vorzusetzen und so mussten andere, zunächst sehr wenige, kommen, die David Bowie und Roxy Music den Weg in deutsche Städte bereiteten

Daß Glam hier überhaupt stattfand, ist von mehr als nur anekdotischem Interesse. In der Zusammenschau mit »Velvet Goldmine« geht einem auf, wieso: da sieht man den künftigen Glitzer-Rock-Star als den coolsten Mod des Schulhofs. Auch die ersten britischen Hippies rekrutierten sich aus Mod-Kreisen: Die Idee, aus einem Stil ganze Identitäten zu konstruieren, war also tief verwurzelt im Bewußtsein einer ganzen Generation. Diese Mod- Szene fehlte nun aber, wie gesagt, hierzulande fast völlig, eine entsprechende Genealogie ist also nicht übertragbar. Die Leute, die hier circa 1972 mit Glam in Verbindung kamen, hatten möglicherweise Velvet Underground, Captain Beefheart oder Alice Cooper gehört; vielleicht störte sie auch nur der allgemeine Hippie-Konsens.

ROCKY HORROR HAMBURG SHOW

Den älteren Hippie-Bruder ärgern zu können, war ein willkommener Nebeneffekt für einen der drei Hamburger Gymnasiasten, die unter den ersten waren, denen die von David Bowie und Roxy Music eröffneten Möglichkeiten aufgingen. Der leider zu früh verstorbene Stefan Ohrt hatte Bowie schon vor dem "Ziggy Stardust"-Durchbruch für sich entdeckt und bildete zusammen mit Nicola Reidenbach und Sven Kirsten eine dieser seltsamen Zufallsgemeinschaften von Menschen, die im rechten Moment zueinanderfinden. Glam funktionierte in Hamburg auch dank der Nähe zu London: Platten, Informationen und Kleidung wurden von der Kings Road nach HH geschleppt. Andere Accessoires konnte man in einem Rockerladen, der bereits seit den Sechzigern auf dem Kiez existierte, besorgen. Lustiger- und gar nicht mal unpassender weise sahen die Rocker in den androgyn gestylten Menschen Geistesverwandte, mit denen man eine Abneigung gegen Kifferhippies teilte. Mit ihrer Idee von Rockerästhetik zielte die ganz junge Suzi Quatro genau auf diese Schnittmenge.

Ein weiterer Faktor sprach für Hamburg als Schauplatz: Die Reeperbahn garantierte für einen Sexmarkt, dessen Möglichkeiten scheinbar weniger im Widerspruch mit der in Glam angelegten Auflösung von Gender-Identitäten stand, als die durchschnittliche Hippiemoral. Dabei berührten sich Glam und das Reeperbahnambiente nur in einem historischen Moment: dem einzigen Livegig der New York Dolls in der BRD. Neben einem Fernsehauftritt im Musikladem (man erinnere sich an Manfred Sexauer und die Nummerngirls) spielten sie im Salambo, dem einstigen Star-Club,der nun für harte Hetero- sowie Schwulen-Sexshows stand. Auf dem Backcover der zweiten New-York-Dolls-LP sieht man die Band just vor diesem Laden posen. Abseits der Reeperbahn existierte ein Club namens Fucktory, in dem auch Glam-Rock aufgelegt wurde und der ansonsten seinem Namen alle Ehre machte. Was auch immer dort wirklich stattfand, öffentlicher Sex oder gar schwarze Messen, wie es die Lokalpresse unterstellte, es reichte jedenfalls für die Polizei aus, den Club eines Tages ein für allemal dichtzumachen.

Was in »Velvet Goldmine« der Figur des Journalisten in seinen Teenagertagen bei der Selbstfindung half,forderte für andere erstmal nur den Mut zur Pose: Junge Männer bemühten sich plötzlich um ein Bi-Image, das - wenn schon nicht zur Befreiung des Selbst - doch zum Bruch mit dem tendenziös machoistischen Hippiegehabe und zum Spießerärgern in der Straßenbahn taugte. Es mögen in ganz Hamburg ungefähr zehn Leute gewesen sein, die schnell genug reagiert hatten und nun den Spaß haben konnten, auf Parties von Hippies aus bildungsbürgerlichem Elternhaus solange die allgemeinen Gespräche zu boykottieren, bis sie als Faschisten beschimpft wurden. So hatte man auch gleich den Vorwand, den Hausrat ein wenig zu demolieren. Hier kehrte das Halbstarkenethos als Alternative zum Ausdiskutierzwang zurück. Neben dem zur gleichen Zeit stattfindenden ersten Rock' n'Roll- Revival setzte man so Zeichen für das, was mit Punk und danach kommen sollte: Das zu Negierende fand sich nicht in erster Linie bei der Generation der Eltern, sondern mindestens im gleichen Maße auch in der Kultur der älteren Geschwister. Die Argumentation wurde dabei sowohl unnachgiebiger wie strategischer.


Daß die Hippies bei der Hamburger SOUNDS-Redaktion auch nichts kapierten, half fürs erste, den immer wichtiger werdenden hippen Vorsprung zu halten. Was sich gleichzeitig in den Charts anbahnte, interessierte dabei nur wenig. Es leuchtet in mancher Hinsicht völlig ein, aber die Ablehnung aller aufkommenden Teenieversionen von Glam (mit Ausnahme von T. Rex) wiederholte leider auch das Anspruch-versus-Trash-Klischee der SOUNDS. Nicola Reidenbach und Sven Kirsten stutzen beide schon bei der Erwähnung des Begriffes Glam-Rock: »Glam, das waren doch The Sweet oder Slade, damit hatte ich nix am Hut.« Andererseits konnte man nun auch spaßeshalber wieder Bravo lesen, denn alles was dem »großen Sinn« (für den eben Hippies standen) ein Schnippchen schlug, war nützlich.


LA DÜSSELDORF, MUNICH


Weiter südlich, in Düsseldorf, spielten Kraftwerk und Neu! schon den Soundtrack für Bowies und Enos Post- Glam-Phase. Die dortige Szene zwischen Kunsthochschule und aufkommender Werbewirtschaft war ein starkes Gegengewicht zum Hippie-Konsens, Das Schaffen von Klaus Dinger (Ex-Kraftwerk, -Neu!, -La Düsseldorf und heute La!Neu?) besitzt dabei einige Gemeinsamkeiten mit Glam. »Ziggy Stardust traf für mich recht gut den Geist der Zeit« erzählt er, um eine Ecke seines eigenen Paralleluniversums zu beschreiben. Hier wie dort wurde bewußt Pop Art interpretiert, und im Unterschied zur (rückwärtsweisenden) Entdeckung des Zitats bei Roxy Music und Bowie erschloß Dinger (vorausdeutend) neue Technologien, um sie für eine eigene Ästhetik zu verwenden. Wenige Jahre später war Düsseldorf dann Schauplatz der ersten deutschen Punkszene.


Noch weiter südlich wurde Glam emphatischer rezipiert und zelebriert als anderswo. Ingeborg Schober erzählt, daß die ersten gestylten Menschen 1972 beim Queen-Konzert in München auftauchten. Als ein Jahr darauf Roxy Music das heutige Volkstheater beehrten, glich die Szenerie keineswegs den bemitleidenswerten Bildern von einem deutschen Roxy-Publlkum im letzten Whirpool-Video. Viele waren geschminkt, hatten die langen Haare abgeschnitten und gefärbt, trugen enge, hochgekrempelte Hosen, hohe Stiefel mit oder ohne Plateausohlen und silberne Bolerojäckchen. Nicht nur für einen Ex-Amon Düül- und Embryo-Musiker wie Jörg Evers war das ein willkommener Anlass, dem Hippiekommunen-Diktat zu entkommen. München tat sich nicht schwer mit dem Wandel, stellte die Stadt doch schon seit Mitte der Sechziger ihren Anspruch als flexible Modestadt unter Beweis. Hier antworteten ansässige junge Modemacher schnell auf das neuerwachte Bedürfnis nach Style und ersetzten so die fehlende geographische Anbindung an London oder Amsterdam. Wenn das silberbejackte Glitzerpublikum dann zwei Jahre später einem Bryan Ferry im weißen Tuxedo gegenüberstand, zeigte sich dabei auch ein amüsanter Zeitverzögerungseffekt.


Immerhin: Das Tiffany, vorher zum Live-Club abgestiegen, fungierte wieder als Disco, wo nun Glam und Philly-Sound zusammenklangen. Dazu tanzte die Szene um die Filmhochschule (Cleo Kretschmer etwa war überzeugter Roxy-Music-Fan), und in irgendwelchen Ecken wurde der »Sound of Munich« vorbereitet. Noch deutlicher reagierten einige Musiker um Jörg Evers: Anfang 1974 veröffentlichten sie als 18 Karat Gold mit »All-Bumm« die erste und einzige deutsche Glam-Rock- LP (sieht man mal von einigen Glam-Spuren bei Can und Kraan ab). Zu dieser Zeit war dann auch SOUNDS bereit, diese Platte als Alternative zum Krautrockverdruß anzupreisen. Bis dahin waren der »England-Korrespondent« Duncan Fallowell und Ingeborg Schober mit ihren Vorlieben allein auf weiter Flur gewesen. Besonders Frauen meldeten sich laut Ingeborg Schober auf Ihre hart erkämpften Artikel und Radiosendungen hin. Einerseits berührte das Konzept der Androgynität vor allem die männliche Sexualität, denn außer Suzi Ouatro mangelte es an weiblichen Glam-Rock-Figuren (was im schlimmsten Fall nur alte Rollenmodelle verfestigte). Andererseits bot Marc Bolan für viele Mädchen eine faire Alternative zu Led Zeppelins Jungsmusik mit Machoposen und befreite Frauen vom Wollpulloverdiktat,
 

STARDUST

Zweifelsöhne war Glam eine Laune, mußte eine Laune sein. Dort, wo es glitzerte, wechselten die Identitäten und Moden natürlich kontinuierlich und ließen genug Platz für einen Pragmatismus, der den Hippies nicht geheuer war. So passte man sich für den Besuch bei der eigentlich doch ganz netten Hippie Tante auf dem Land auch mal entsprechend an, um Konflikten oder Stil-Fragen aus: dem Weg zu gehen Die Ökos selber zeigten sich recht resistent gegen alles, was mit Glam hierzulande seinen Anfang nahm. Weder die Popper, die den Hedonismus von Glam bald in eine neoliberale Ideologie verfrachteten, noch Punk konnten ihnen wirklich viel anhaben, Sie predigten weiterhin: »sei selbstauthentisch«, hatten aber gelernt, wie man damit Geld verdient. Glam wiederum führte nicht selten zu Medien- oder Werbe-Karrieren.


Das Spiel mit Identitäten schillerte noch mal Anfang der Achtziger (siehe auch Ingeborg Schobers Beitrag im Sammelband »But I like it«, Reclam Junior), und diesmal war auch SOUNDS auf der Höhe der Zeit (sowie auf dem Weg in den Konkurs). Wie sich Ironisierung und Zitat als Strategie selbst abschafften und dann doch wieder auftauchten, wussten diese Seiten regelmäßig zu berichten, und vergaßen darüber irgendwann, wie der Soundtrack für die besseren jugendlichen Seifenopern klingen könnte.


Oliver Tepel


Danke für Informationen und Unterstützung an Ingeborg Schober, Nicola Reidenbach, Sven Kirsten, Jörg Evers, Klaus Dinger, Diedrich Diederichsen, Manfred von Papen, Petra Fuchs & Stefan Wood sowie Horst Knies.


[Erschienen in: SPEX 216 - November 1998]

Sonntag, 27. Januar 2013

Musikliste 2012 - Der späte Vogel singt die süssesten Lieder?

Und plötzlich war es soweit. Ich hätte es wohl 2008 ahnen sollen, vielleicht auch beobachten können, aber mir wurde nicht klar, was aus diesen, vielfach ironisch gebrochnenen, Spielereien mit 80er Stilistiken wachsen konnte. Daß hier wirklich eine neue Soundästhetik geschaffen wurde und in ihr dann sogar der Versuch, an den Begrenzungen des Ironischen vorbeizukommen. 1993 habe ich keine Jahrescharts notiert. Das Jahr erschien mir als eine Enttäuschung. Heute sehe ich in ihm die letzte größere Ansammlung von Alben, die mich wirklich begeisterten (Freestyle Fellowship, Caetano & Gil, Phish, Randy Travis, Plastikman). Aber eine Passivität, ein Suchen in Nischen zeichnet sich ab, welches dann alle Listen, die bald von mir anfragt und abgedruckt wurden, prägte. Nie hatte ich Probleme mit der Höchstzahl möglicher Nennungen. 2012 hatte ich sie. Kann sein, in Folge einer gewissen Euphorie. Ob mich "Commotus" in 19 Jahren noch so begeistert wie "Innercity griots", wird die Zeit zeigen. Am Ende erzählen solche Listen ja etwas über den Menschen, der sie erstellt, sein Denken und Leben und vielleicht auch etwas über die Zeit.

LP's

 













1. Lucrecia Dalt ‎– Commotus  (Human Ear Music)
Eine Western Gitarre träumt sich durch eine Wüstenlandschaft um der Perkussionsfigur eines verschleppten Boleros zu weichen. Dazu singt die verhallte Stimme von Vorsicht und Wagnis. Dann hält die Musik komplett inne, bis uns eine vorbeifliegende Fledermaus aufschreckt. Wir hören ihren Ultraschall-Ruf.
2. Boy Friend ‎– Egyptian Wrinkle  (Hell, Yes! Records)
Tragische Romantik. Hinter schwarzen Organza Vorhängen tuscheln Spitzenklöpplerinnen über die Leiden der Schönheit. Davon, daß es doch schmerzt, wenn der Falsche geht und davon, wie süß es sein könnte - aber da sehen wir, wie die Nadel den Finger sticht und verlieren uns. (Noch besser als Sleep∞Over)
3. Nite Jewel ‎– One Second of Love  (Secretly Canadian)
Ihre Sprache ist nun eine elektronische Version des sophisticateten Blue Eyed Souls der 80er: Isabelle Antena, Everything but the Girl oder Baisa klingen an. Der Gesang sucht keine großen Effekte, subtile Melancholie schimmert selbst aus den leichtfüssigsten Hooklines. Einst zeigte diese Musik dem New Wave Klischee die lange Nase.
4. Tops ‎– Tender Opposites  (Arbutus Records)
Versuch, sich mit diesen Stimmen, die nach falscher Drehzahl klingen, anzufreunden. Hier verfügt sie über genug Ausdruck, mit ihr zu wollen, dorthin, wo der ideenreiche Gitarren Pop seine melancholisch süßen Figuren zeichnet.
5. Andy Stott ‎– Luxury Problems  (Modern Love)
Deutlich mehr Struktur klingt auch nach deutlich mehr Arbeit. Deutlich mehr Struktur klingt auch nach deutlich mehr "Kopf ab!". Deutlich mehr Struktur klingt auch nach deutlich mehr Album. Deutlich mehr Struktur klingt auch nach Industrial R&B.
6. Paco Sala ‎– Ro-Me-Ro  (Digitalis Recordings)
Auf dieser Ebene der Verführung könnten die Gesten Schwindsucht meinen, wenn damit dann das 19. Jahrhundert in den HipHop einkehrt um einem Picknick im Freien beizuwohnen bei dem keinem der Beteiligten große Sprüche einfallen müssen.
7. The National Jazz Trio Of Scotland's Christmas Album  (Karaoke Kalk)
Völlig unmittelbar rührt der zarte Ernst dieser Interpretationen, selbst Stilmittel wie gesampeltes Hundebellen passen sich ein. Wie einem diese Lieder noch einmal gerettet werden macht sprachlos.
8. Alice Cohen ‎– Pink Keys  (Olde English Spelling Bee)
Hier nun die Lebenserfahrung vieler begangener Seitenstraßen in einer gänzlich neuen Idee dessen, was denn "Singer-Songwriter R&B Pop" sein könnte.
9. Holly Herndon ‎– Movement  (Rvng Intl.)
Die Künsterlin, die so schön atmet. Was wohl Anne Gillis dazu sagt?
10. Julia Holter ‎– Ekstasis  (Rvng Intl.)
Überlagernde Melodiefragmente, ähnlich denen der Minimal-Music, vollführen kleine Dramen in antiker Klarheit. Wohl wissend, daß das so erhabene Weiss antiker griechischer Skulpturen einst von bunten Farben bedeckt war, appliziert sie Schicht um Schicht auf ein avantgardistisch anmutendes Projekt und erhält so eine sehr persönliche Songwritermusik.
11. Dwight Yoakam ‎– 3 Pears  (Warner)
Welch Wunder, da wartet er nach sieben Jahren mit einem so frischen, wie Ideenreichen Werk auf. Potentielle Hits, nur wohl mit zu wenig quietschender Stadionrockgitarre um jugendliche Country Fans zu begeistern. Dafür aber voller Akzente (Bläserarrangements!), sensibler Kniffe (Beach Boys Harmonien!) und ausgefeiltem Songwriting.
12. Hans Süper ‎– Kölsche Jung  (GMO)
Die rheinische Seele des Bossa Nova.
13. THEESatisfaction ‎– awE naturalE  (Sub Pop)
Den Vertigo nach Vorne marschieren zu lassen, als Groove in einer etwas bessere Welt. Selbstbefreiung des Retro Nuevo Souls zu einer Musik der Zukunft.
14. Dr. John ‎– Locked Down  (Nonesuch)
Sind es Hunde, die da draußen heulen, oder die Stimmen der Kinder?
15. The Spaceape ‎– Xorcism  (self released)
Candomblé-Tänzer in einem mannshohen Maisfeld. Jemand hat Messer eingeschmuggelt.
16. White Car ‎– Everyday Grace  (Hippos in Tanks)
Ein langer Tunnel, einige Lichter flackern, eine Kurve ohne Ende, dann, sanfter Richtungswechsel, weiter und weiter ziehen die Abgase schwarze Linien auf weissgetünchte Wände. Natürlich aus Beton.
17. Django Django ‎– Django Django  (Because)
Neulich auf dem Campus und doch um einiges wunderbarer, als einfach nur klug und clever. Vielleicht ein Handreichen der Jam-Bands mit dem Zappelhipster, also von Campusecke zu Campusecke.
18. Eyeless In Gaza ‎– Butterfly Attitude  (Downwards)
Das Auffunkeln haben ihre Zeitgenossen komplett verlernt, im Schrecken des Alterns. Doch Altern hatten die Beiden stets eingeübt. Nun als Blues?


Singles/EP's











 


1. Fear Of Men ‎– Green Sea  (Sexbeat)
Push the splinter deeper - Underground in the vein - Too much blame to leave it all to chance - Antikes Drama als präzise gestaffelten Neuerfindung einer Creation 7". Revolving Paint Dreams ungelebter Triumph in Prometheus Schatten.
2. Jessie Ware ‎– Running  (PMR Records)
Modern Soul retten - a) elegantes Drama, Sades Verzweiflung.
 3. Les Demoniaques ‎– Teenage Lust  (True Panther Sounds)
Mit scharfer Klinge gesticktes Kissenmotiv einer fauchenden Katze.
4. Azealia Banks ‎– 1991 EP  (Interscope Records)
Wenn der Hit des vorletzten Jahres erst im November erklingt und sich zu einer Reminiszens an das Vougeing aufschwingt.
5. School of Seven Bells ‎– Love From A Stone (= B Seite) (Full Time Hobby)
Als R&B Band begeisternd. Oh, diese stillen Hits!
6. Twigs ‎– Twigs EP  (self released)
Als R&B einer neuen Zeit begeisternd. Oh, diese zarte Hipness.
7. Jessie Ware ‎– 110%  (PMR Records)
Modern Soul retten - b) architektonisches Tanzen über Breakbeats. 

8. Evy Jane ‎– Sayso  (King Deluxe)
Sie nennen es " experimental R&B".
9. Wild Nothing - Shadow  (Captured Tracks)
Eigentlich klang das ganze Album so elegant.
10. Tiers ‎– October  (bandcamp.com)
Hier warteten im letzten Jahr Blouse. Neugotisch.
11. Jessie Ware ‎– Strangest Feeling  (PMR Records)
Modern Soul retten - c) Das Schwelgen im Lichte aktueller Pop Ideen. 
12.  Zebra Katz ‎– Ima Read  (Jeffree's)
Englische Erziehung im HipHop.
13. Teleoptyk - Sacrifice  (Alfa Matrix)
1985er Technik mit neuen Maschinen. Ein älterer Herr blickt noch mal in die Runde und knipst die Cyber-Leuchte aus.
14. Red Stars Over Tokyo ‎– 4 song 12" (Hot Hair)
 Tormented war ein guter Versuch, den Geisterfilm neu zu beleben. Night of the Eagle ebenso. Warnungen wollten sie sein.
15. Jack Dice ‎– Block Motel  (Modern Love)
Hier stand im letzten Jahr Zomby. Diesmal mit mehr Nuancen.
16. Daugther ‎– Smother  (4AD)
Altes England, Deine Geschichten von versunkenen Seemännern lassen Dich nicht los.
17. Wild Nothing - Nowhere  (Captured Tracks)
Nochmal mit einem Rest alter Spröde.
18. Chairlift ‎– I Belong In Your Arms  (Young Turks)
Wenn das 90er Revival neue Texas bringt, mag ich auch deren Remixe. Kommende Stars.
19. Linea Aspera - Kinabalu  (Linea Aspera II / self released)
Doch, einmal, Alain Végas Tochter.
20. Martyn ‎– Hello Darkness  (Brainfeeder)
We are you in the future, so heisst ein Track, ein Mann hustet, es scheint ernst, der Bass setzt ein: Night after night. 


(Ziffern dienen der Orientierung und vielleicht später dem Wunsch nach Revision.)

Donnerstag, 5. Januar 2012

Letztes Jahr - Musikliste 2011

Was mir so auffiel und gefiel...

LPs:











1a. Dark Dark Dark - Wild go
Ich wünschte, sie würden sich an ihrer Pose verschlucken. Aber dann zweifele ich wieder, ob es überhaupt eine Pose ist. Mir scheint, sie haben etwas verstanden ohne dafür ihre Hütte rosa streichen zu müssen. Aber mir scheint auch, ich habe sie noch gar nicht verstanden.
1b. Kate Bush - 50 words for snow
Eigentlich noch zu früh... erst ein kleiner Schneefall und diese in Essenzen ausgespülte Version eines grossen Könnens bleibt mir rätselhaft. Ein wenig wie "Climate of hunter" aber ich weiß nicht, wem von beiden dies ein Kompliment ist.
3. Ada - Meine zarten Pfoten
Ich stelle mir vor, sie hat sieben Jahre an nichts anderem gearbeitet und es ist aufregend, die Platte auf diese Weise zu hören.
4. Merle Haggard - Working In Tennessee
Ein Rückschritt in meinen Ohren, von grossartig zu sehr gut. Eine Frechheit, dies zu behaupten.
5. Andy Stott - Passed me by
Doch etwas anderes was sich da anschleicht und kauernd im Gebüsch verharrt, ich dachte, ich kenne diese Wesen, aber sie geben wirklich keinen Ton von sich.
6. The Moth & The Mirror - Honestly, This World
Hurra! Versöhnt mit dem Schottischen Indierock, weil er endlich mal vom Boden aufschaut und dann solche Dinge beschreibt wie Seenlandschaften oder frei fliegende Schmetterlinge.
7. Zomby - Dedication
Geht auch auf 33, manchmal passen die Titel dann sogar besser. "Trauerarbeit", sagt der Künstler.
8. Enrico Rava Quintet - Tribe
Weit motivierter, als das unmotivierte Auftauchen inmitten poppigerer Unfreiheiten. Aber "Lebendige Melancholie" das würde man in dieser Welt auch gerne hinbekommen, das Geheimnis sind jedoch die Improvisationen - glaube ich.
9. Gal Costa - Recanto
Ein stilles Album voller Räume zwischen den Tönen um sich im Elektronischen mal wieder zu erfinden. Man könnte auch über formale Sensationen reden.
10. Soft Metals - Soft Metals
Die kleinen Variationen im Arrangement, die ich schätze und die Klarheit der Produktion, die mir zusagt, sprechen dafür, daß ich das Genre eigentlich gar nicht verstehe. Insofern wohl: ein überzeugendes Versagen.
11. Tinariwen - Tassili
Zugleich ein Schritt zum Weltruhm und ein Schritt in die Verschlossenheit. Will am Stück gehört sein, nicht über Kopfhörer, braucht Raum.


Singles:











1. Pional - We have been waiting for you
Leider wurde die Gitarrenversion nie auf Tonträger veröffentlicht. Wo bleibt die 7"?
2. Cass McCombs - County Line
Wieder The Band, hier eher schon Kopie, aber eine enorm feinfühlige Richard Manuel Gedächtniszeremonie.
3. Noel Gallagher's High Flying Birds - The Death Of You And Me
Was sich Supergrass' St.Petersburg bedient um Nach New Orleans zu ziehen und so um die Falsettöne kämpft ist mir gern Begleiter.
4. Zodiacs - Faraway Friend
Selten, daß mich Doppelter Retro begeistert, aber da klingt im Refrain was so Spooky wie das gesamte Unterfangen.
5. Die Vögel - Fratzengulasch
Etwas ganz Eigenes (ach, Loriot...) - das ist wahrlich so selten heutzutage und beeindruckt. Für Nachschlag bitte nicht wieder hinten anstellen!
6. Ron Deacon feat. The Kat - Electronic Music
Essay - und das gerade in dem Genre!
7. Friends - Friend Crush
Alter Trick.
8. Osunlade - Envision / Atsuta Jingu
R&B-House und eine perkussive Angelegenheit.
9. G.H. - Ground EP
Dieses Wesen wiegt sicher eine halbe Tonne, aber man hört es nicht, wenn es nach dem Mahl wieder im See verschwindet.
10. Jonny Trunk - Study Series 06: Animation and Interpretation
Hoffnung in den experimentellen Kurzfilmen der 60er.
11. The Soft Moon - Total decay (EP)
Weniger der Manchester 1979 Aspekt, als denn diese Drumbeats.
12. Blouse - Into Black / Firestarter
Etwas sehr Unanständiges, hoffentlich.
13. Sleep ∞ Over - Casual Diamond
Ähnlich Gothisch.
14. Mano le Tough - Stories EP (From the start)
Nach einigen Sekunden gibt es sich als analoger Automat aus, Töne die früher an einem Knöpfchen erdreht und heute über ein Pad gezogen werden.
15. Kassem Mosse - Enoha EP
Das kommt so langsam zu sich.
16. Various - Mu EP
Sich in den Weg stellen, dabei hübsch sein und nicht sehr nett.
17. Eugene McGuinness - Lion
Am Ende immer etwas Freches.

Ich sollte vielleicht das mit den Nummern lassen.

Donnerstag, 1. September 2011

Heute vor fünf Jahren (Spex 300 revisited)

Ich glaube, ich bin ein langsamer Mensch und gewisse Themen bleiben mit einer erstaunlichen Beharrlichkeit bei mir oder sie brauchen schlichtweg ihre Zeit um einzusickern, das Denken zu verändern und rückwärts durch die Strukturen hindurch Änderungen auszuführen. Es waren ein paar aktuelle Anlässe, Fragen zum Schreiben über Musik, welche mich an den Text erinnerten doch was genau drin stand, hatte ich längst in weiten Teilen vergessen. Vielleicht zu recht. Doch ich mag auch den Gedanken an diese späte Zeit des Kölner Musikschreibens in der noch mal so viel möglich war und es in der Regel kaum jemand bemerkte. Der ungehörte Pathos erspart Handschütteln und Ohrwatschen gleichermaßen, mag man denken, aber eigentlich war es viel besser: Es war die Zeit, in welcher der Pathos gänzlich abgeschafft wurde und das "Egal" einem mit nüchterner Macht eine angenehme Bescheidenheit beibrachte. Gelernt ist diese Lektion noch nicht zur Gänze, bin halt langsam, wie erwähnt.


Manierismus in der Rockkritik

Überlange schlanke Finger schreiben gezirkelte Worte auf billiges Papier, sie umfassen den Füllfederhalter als wären ihre Knochen aus Gummi.

Alles Quatsch! - Denn als Zweifel und Perspektivverschiebungen die Rock-Kritik erfassten, saßen axelschweissige Bartträger an klappernden Schreibmaschinen.

Eine Rock Kritik, die ihre Funktion nicht darauf beschränken wollte, Sprüche eines Radio DJ's über die "neueste heisse Scheibe von" auf Papier zu bannen, hatte Literatur- wie vor allem Jazzkritik als Leitfaden. Was der US-Amerikanische Rolling Stone und bald darauf Creem dann an Stilen, Betrachtungsweisen und Positionen anbot, beschrieb den Kosmos einigermaßen flinker Ex-Studenten (was sich bis heute nicht großartig geändert hat) die überhaupt erst dank der Beatles und Bob Dylan auf die Idee kamen, daß sich eine detaillierte und ihr Sujet ernst nehmende Auseinandersetzung mit Rock Musik lohnte. Was dann möglich wurde, muß für eine kurze Zeit so geil und pubertär gewesen sein, da musste jeder gelungene Satz ein freches Grinsen beinhalten, schrieb man doch noch gegen eine Öffentlichkeit, denn die populäre Musik entsprach nicht dem kulturjournalistischen Jargon. Es war noch ein weiter Weg bis ins Feuilleton.

Die frühe avancierte Rockkritik wähnte sich inmitten eines goldenen Zeitalters. Was wartete hinter der nächsten Ecke, neue tolle Nachrichten von Dylan an die Welt, der Aufbruch nach der Psychedelischen Phase? - Doch es wartete der Tod. Das Altamont Rockfestival hinterließ eine Blutspur und öffnete den Blick in die Schattenwelt der neuen Errungenschaften. Als Langdon Winner in seinem Essay "the strange death of Rock'n'Roll" den Impuls der Beatles für eine neue US-Amerikanische Rockmusik pries und von einer Musik träumte, die alle Töne und Bilder seines Landes mit einschließen könnte, sickerte das Bild des Authentischen und der abbildenden Funktion in die Rock-Rezeption. Ideen aus Sturm und Drang, Klassik und Romantik tanzten so leidenschaftlich wie unbeholfen durcheinander, als müsste das Schreiben stets formales Zeugnis des Hippie Human-Be-Ins ablegen. Doch für das gab es im Jahr 1967 nur verzücktes Gestammel.

Greil Marcus und Lester Bangs waren wahrscheinlich von der Brutalität in Altamont weit weniger überrascht als viele Andere, doch in der Folge finden beide einen neuen Ton, eine Sprache des Verunsicherten der nicht mehr an die Funktionalität der gewohnten Realität glaubt. Der Kunsthistoriker Gustav René Hocke sah in seinem Buch "Die Welt als Labyrinth" eine derartige Situation erstmals circa 1520, interessanterweise dadurch gekennzeichnet, daß das Wort "Modern" Bedeutung erlangt. Darin liegt ein Sich-Abwenden von der in scheinbarer Sicherheit und Klarheit verwurzelten Renaissance. Er beschreibt die Sprache des Manierismus als "bewusst Anti-Klassische Ausdrucksformen". Mit Klassik kontrastiert, verdeutlicht er den Manierismus: "Die Klassik will das "Verborgene" des Mysteriums in der "Verständlichen" nur "sublimierten" Natur zur Darstellung, der Manierismus will das "Verborgene" in einer "emblematischen", in der "Idee" meist "deformierten" Natur zur Wirkung bringen", so Hocke im genannten Werk. - Das Objekt des Manierismus ist der Spiegel. Parmagianino malte seine Antlitz in einem gewölbten Spiegel, verschobene Formen, kennzeichnen das Werk. Der Zweifel an der Gültigkeit der Sichtweise, an der Unveränderlichkeit der Proportionen und eine Konzentration auf vormals unwichtige Details werden zentral, zudem beginnt der Siegeszug des Subjekts, das Ich spiegelt sich oder es spiegelt die Welt in sich. Da wären wir beim Rezensenten.

1971 begann Lester Bangs Winners Klassizismus auf den Kopf zu stellen und erkannte sich selbst im Feedback einer Freiheit, welche die Freude am Geräusch des Teenie Rocks mit den Velvets und dem Free Jazz Ornette Colemans verband, verwirklicht im Werk der Stooges. Dabei beschrieb er den Blick eines Individuums, eines unzufriedenen und zugleich zutiefst erfüllten Suchenden Menschen. Diese individualisierte Perspektive, Jahre später ein einem Text über Van Morrisons Astral Weeks zu einer bewegenden Innenwelt-Reise verdichtet, war Bangs große Neuerung. Sein "Ich" stand nicht als Ausrede für fehlendes Wissen, sondern als starke und zugleich hochverletzliche Position. Er war allein und Iggys gewundene Ballerina-Aggression sprach zu ihm.

Greil Marcus glaubte nicht an eine Klarheit, die sich aus der Beschäftigung mit historischen Fakten einstellen könnte, er glaubte an den Mythos und seine Spuren in einer Nation von (Tag-)Träumen. In seinem Buch "Mystery Train" setzt er Schlaglichter, welche den Mythos kurz erhellen und Momente preisgeben die er durchaus als kollektive Erfahrungen beschreibt. Eine Ausführliche, jedem Detail eine Bedeutung zuweisende Beschreibung des ellenlangen Intros von "Papa was a Rolling Stone" der Temptations führt er fort: "Ich kannte mehrere Leute, die am Straßenrand hielten und zitternd und abwartend dasaßen, während der Song aus den Lautsprechern kroch und die Nacht erfüllte." - Pathetischer Manierismus: Die Begegnung mit dem Song der Temptations wird zum Blick in ein Mikroskop für Empfindungen. Wenige Sekunden eines Songs blühen in seiner Beobachtung auf, als eine komplette soziale Sachverhalte beschreibende Kunst. Er war ja klug genug, die Bilder Amerikas in der Rockmusik als Mythen zu begreifen (auch eine Abkehr von Langdon Winner). Der Blick auf die "Basement Tapes", jene verstörenden Privat-Aufnahmen, die Bob Dylan und The Band 1967 entgegen aller Klänge der Zeit einspielten und die in Auszügen erst 1975 veröffentlicht wurden. "Ihre Musik war auf eine Weise gestaltet, die einen Weg zurück ins innere Amerika wies, und es funktionierte", schreibt er über die Band und zeigt, wie ein vermeintlich klassischer Ansatz, der sich auf Traditionen beruft, in eine Subjektivität führt.

Zu diesen Positionen addieren sich die von Außenseitern, etwa jene J.R. Youngs. Wie Arcimboldo Menschen als Assemblage aus Früchten und Ernteerzeugnissen portraitierte, so schrieb Young, statt Rezensionen in den bekannten formalen Techniken, Geschichten. Gut möglich, daß diese Form nicht auf ihn zurückgeht, aber er perfektioniert den Stil im Rolling Stone ab 1969. Eine ellenlange Rezension von Crosby, Stills, Nash & Youngs "Deja vu" entpuppt sich als ein Gespräch zweier hipper Bay Area Plattenverkäufer über Musik, Drogen, Kalkulation und das Ende des Hippie-Traums. Ein wütender Leserbrief fragt, wieso dieser Mist neben Langdon Winners (!) legitimer Rezension abgedruckt wurde. Der Rockhörer ist erstmal kein Freund des Manierismus, er wünscht oftmals Produktinformation und klare Wertungen.

In Deutschland bekommen Hans Keller und Ingeborg Schober entsprechende Watschen ab. Sie schreiben in der Sounds (die sich auch erst durchringen musste, neben Jazz auch Rock zu behandeln, dann aber zum wichtigsten Musik-Magazin der 70er wurde) über Glam-Rock und finden ihn gut, wie auch der schillernd selbstverliebt schreibende Yves Adrien in Paris. Dandyismus fußt auf manieristischem Zweifel und Subjektlust, sein Pop-Schauplatz war Glam und bald Punk. Da steht dann Keller als Titelheld (!) in Lederjacke auf der ersten Punk thematisierenden Sounds und zieht ein Gesicht *. Nach New York führt ihn bald die Szene um Lydia Lunch, doch dann entdeckt er dort den ganz frühen Rap, zurück in Europa fasziniert ihn Italo-Disco, es kommt zu einem legendären Spex Artikel. In einem weiteren zelebriert er sich selbst - zurecht, hatte er doch etwas zu sagen über Wandlung und wache Wahrnehmung.

Das "Ich" wurde ab Punk die zentrale Figur der Pop-Rezension. In England schreibt Paul Morley für den NME und seine an französischer Theorie, Nouvelle Vague Kino und deutschen Autorenfilm geschulte Sichtweise führt zu einer nomadischen Sprache, er schaut vorbei, findet, betrachtet feine, scharfe Kanten bei Joy Division oder Ludus und fordert bald Pop, als geschwätzige Basis für große Gesten. Den stilistischen Experimenten des frühen Morley entsprechen Harald in Hülsens Rezensionen im Musik Express voller "///" als handele es sich dabei um postmoderne Rimbaud Übersetzungen. Den Pop Morleys übertrumpft hierzulande Andreas Banaski alias Kid P. - Er beherrscht Julie Burchills Polemik und seine Subjektivität bedeutet Einblick in das Privatleben des Kid P. - eine in Wikipedia auf ihn verfasste Hymne berichtet auch von den Folgen seiner Perspektive für die kommende Popliteratur. Die übernimmt seinen Stil des bösen, indiskreten Kommentars, der Ich-Erzählung und des Glaubens an die Größe von Pop und übersieht etwas, was einem wiederum Hocke erklären kann: "Die Gefahr der Klassik ist die Erstarrung, diejenige des Manierismus die Auflösung" und weiter: "Manierismus ohne Klassik als Wiederstand wird Manieriertheit." - Tatsächlich kannte Kid P. (wie auch alle anderen hier erwähnten) ihr Sujet, sie verfügten über eine durchaus "klassische" Popbildung (Banaski schrieb später im Sinne einer Klassik, die ihr Scheitern am HipHop mit Goethe argumentiert) und waren in der Lage den Spiegel in beide Richtungen zu benutzen. Klare und deutliche Urteile verliefen nicht in subjektive Geschmäcklerei oder reines Fantum, denn jene noch so eindeutige Aussage bezog sich auf ein zweifelndes, anti-authentizistisches Denken.

Das fehlt heute dem Intro-Ich und der Irgendwie-Rezension. Wenn es schon einen Standpunkt gibt, so wird er als Sicher geglaubt und da der Einsatz so lächerlich gering ist, muss sich kein Zweifel erheben. Ein Spiel um nichts.

Der Niederländer Roel Bentz van den Berg verkörpert einen Greil Marcus geschulten pathetischen Individualismus., Sein Luxus waren Texte über einen einzigen Song seiner Wahl, die er für das NRC-Handelsblad schreiben durfte und die ähnlich der Seitenlangen frühen Rolling Stone Rezensionen, dort Raum für Detailansichten boten. Sein verdichtender Blick (der mir beispielsweise Neil Youngs "Cortez the Killer" erklärte) deutet auf ein weiteres Detail: die Aufmerksamkeit oder einfach Fähigkeit, kleine Dinge wahrzunehmen und Worte dafür zu finden. Damit könnte auch eine individualisierte Rezension einen Gewinn bringen, nur schreibt die sich nicht mal eben so runter.

Oliver Tepel

[Erschienen in Spex Nr. 300 - September 2006]

* Später stellt Hans Keller in einem Leserbrief klar, daß nicht er sondern der Sänger der Punk und Comedy Rockband Alberto y Lost Trios Paranoias der Titelheld besagter Sounds Ausgabe war.