Donnerstag, 24. April 2014

Donnerstag, 10. April 2014

Leben nach Waterloo


Sie verloren jede Schlacht. Auch wenn einer so tat, als hätte er gewonnen, war es dem distanzierten Beobachter ein Leichtes zu erkennen, daß die Zeit gegen sie war; chancenlos dem Morgen ausgeliefert, fochten sie mit versteinertem Eifer, grimmige Männer, alte, verbissene, harte Männer, deren Überzeugungen nicht zueinanderpassen wollten. Sie stritten, wie man stritt in den letzten Jahren des Zeitalters der Überzeugungen, längst geweiht, alsbald der Zeit der Meinungen zu weichen.

Diese tolle Flexibilität der Meinungen, wie gerne hätte Hans Dietrich Genscher von ihr schon profitiert, als er sich verantwortlich zeigen musste, im Namen einer neuen Überzeugung. Ja genau, die grimmigen Männer betrieben allesamt Politik und ich sah ihnen als Kind zu, natürlich ohne von der neuen Zeit auch nur zu ahnen. Manchmal rollten Panzer. Ich fand es interessant und verstand nichts. Aber die Suggestivkraft des Fernsehens liess mich eine Nacht nicht schlafen, weil ich Angst hatte, die RAF würde mich entführen. Daß sie das nicht vor hatten, kapierte ich ein paar Jahre später. Um zu verstehen, daß Genscher nicht in erster Linie einen Helmut gegen den Anderen, den Spiessigen, den mit der unangenehmen Ausstrahlung, austauschte, brauchte ich doch ein paar entscheidende Jahre mehr. Diese (markt-)ideologische Zeitenwende war vielleicht zu leise in der Welt des Kalten Kriegs oder ich hoffte später ganz naiv, es wäre nur so eine Phase, eine dumme, destruktiv grinsende, jugendliche Phase.

Es ist interessant, daß in den aktuellen Zeitungskommentaren diese grimmigen Männer der alten Zeit, sowie ihre Verwalter, die sorgenernsten Nachrichtensprecher, auftauchen, geht es doch eigentlich um das Ende einer Unterhaltungsshow. Eine Show allerdings, deren Konzept genau auf jener Zeitengrenze fusste, einst ihre Stärke, dann eines Tages, ihr Verhängnis.

Natürlich hat Christian die Wette
damals gewonnen


Genauso steht es in einem Text der Süddeutschen Zeitung - zumindest in der Mobilversion des Texts. Während also die FAZ noch etwas dezidierter auf die Welt der Babyboomkinder verweist und den „Generation Golf“-Autor erwähnt, der doch eigentlich schon zwei Jahre zu jung für die Boomer-Generation ist, aber einst von seinen „Wetten dass“ Erinnerungen geschrieben hat, huldigt die SZ der Sprache.

Vielleicht wollten diese zwei versgleichen Zeilen, wie sie da so allein, zwischen den Absätzen standen, an Deutschstunden erinnern, an moderne Lyrik, die wir nicht leiden konnten und dann doch in oft recht jungem Alter nach noch Wilderem suchten, als es uns die Lehrer vorsetzten. Reimen musste es sich nicht, soviel war gelernt. Und ein Christian wurde bald sogar ein guter Ratgeber bei dieser Suche. Dabei war er noch älter als die alten Männer. Aber wie die SZ erwähnt, lernte man als Kind jener Zeit bei Joachim Kulenkampff durchaus, daß es auch andere Typen des „alten Mannes“ gab, solche, deren Macht in ihrem Charme lag und die offenen Visiers mit Geheimnissen hantierten. Doch ich schweife andauernd ab, geht es doch erstmal weder um einen seit hundert Jahren Toten, noch um einen vor fünfzehn Jahren Verstorbenen, sondern um eine sterbende Fernsehsendung. Wie lange sie schon stirbt, darüber wird derzeit debattiert, doch nun ist ihr Tod angekündigt. Fernsehsendung statt avantgardistischer Lyrik. Zurück zum Alltag: Bald kein „Wetten dass“ mehr, kein montäglicher Schulhofplausch oder kein sonntägliches Lästern im Net.

Herr Lanz, der diese Sendung nahezu erleichtert abmoderierte, soll später kommentiert haben, die Zeit heute sei „zu kalt“ für diese Art des Fernsehens. Überzeugungen sind kalt, Meinungen sind kälter und Herr Lanz, wir, Du, ihr, sie, ich sind in jene Kälte involviert. Wenn wir uns nicht von den Träumen der Kindheit oder Jugend bewegt, infolge gewonnener Überzeugungen oder (ursächlich) erlittener Verletzungen, gegen ein erfolgreiches Partizipieren an dieser kalten Zeit entschieden, dann weinen wir der warmen Zeit (mit der wohligen Badewanne des kleinen Florian Illies und ihren TV Abenden im Bademantel) ebenso nach, wie Lanz. Einer, der doch geradezu als Stereotyp jener Kälte erscheinen könnte, die er kritisiert: Stets leistungsbereit und willig, stets einer, der was zeigen will. War nicht auch er ein vielgelobtes Kind? - Bevor ich aber in die warme Badewanne pinkel, mag ich mich doch kurz um die Tränen kümmern, die nun fliessen. Und daß sie im Feuilleton fliessen, bei aller gebotenen Distanz des journalistischen Gestus doch das Papier unversehens durchweichend, daß liegt im Kern jener besagten Kindheit, der ersten in einer vollkommen industriell und medial ausgestalteten Kinderwelt, eine, die nie vorbeigehen durfte. Wenngleich, je früher in den 60ern geboren, desto wahrscheinlicher, daß die Kratzigkeit selbstgestrickter Wollpullis noch gespürt wurde und die kurzen Hosen mit dem einen, schräg angesetzten Hosenträger, nicht nur ein Stilmerkmal im Look von Fix und Foxi waren. Ein letzter Hauch des Nachkriegs, die Mütter, die immer noch den Grauschleier wegwaschen mussten, auch, da sie oftmals zwischen erlittenen Kindheitstraumata und nicht erfüllten Lebensträumen strandeten. Träume, je greifbarer, desto mehr ihr eigenes Leben schon von der Jugendkultur berührt war. Doch die oft zitierten Hippieeltern gab es in dieser Generation noch höchst selten, der kratzige Pulli war von Oma gehäkelt, ökologisch wiederständige Strickware kam erst noch. Kein Zeigefinger mahnte, solange der Fernseher nach der Sesamstraße nur schnell genug ausgeschaltet wurde. Doch selbst im Angesicht der Nachrichten oder Hoimar von Ditfurths dringlichem Impetus bleib die kleine, von Aussen nun offensichtlich bedrohte Welt ein heimeliger Ort. Ein Ort der Umsorgtheit, voller, aus behüteter Kinderperspektive stets irgendwie realisierbarer Sehnsüchte: MG präsentierte die Träume eines jeden neuen Weihnachten, mit 3 Musketiers fochte man den Rest des Jahres an der Seite Wickies oder träumte mit Malibu Barbie vom Brechen der Wellen an der kalifornischen Küste. Irgendwas, das Psychologen und Soziologen gerne noch in empirischen Untersuchungen benennbar machen dürfen (und vielleicht sollten), knüpfte uns an diese Kindheit und so manchen auch an die Jugend, nebst ihren pathetischen Gegenthesen zur, als scheinheilig enttarnten Wärme. Vielleicht klammern diejenigen sogar mehr, welche die Doppelbödigkeit dieser Welt im Kleinen erfahren durften. Noch war Scheidung ein Skandal und Andrea Jürgens sang für uns: „Und dabei liebe ich euch beide“. Da war Zusammenraufen angesagt, Augen zu und durch, was sollen denn die Nachbarn denken? - Ob der kleine, später so wütende, Kurt etwa noch leben würde, wenn seine Eltern sich das Lied zu Herzen genommen hätten? Aber sie waren ja Amerikaner, hätten das Lied gar nicht verstanden, so wenig, wie Tom Hanks jene komische Show. Und ja, schon wieder war ich dabei abzuschweifen.

Doch tatsächlich war es wohl auch die Popmusik, die noch in ihrer Hochphase voller Ideen sprühte, welche den Blick auf das zu erwartende Leben massgeblich prägte, bis es sich für einige sogar in ihr realisierte. Mit ihrem zweiten Moderator, dem gelockten Thomas, bekam die Sendung sogar ein wirkliches Kind dieser Rock Generation als Erziehungsberechtigten (immerhin: er hatte auf Lehramt studiert) und wenn er seine Kumpels Status Quo ansagte, dann klang es, als müsste da etwas unfassbar Wildes kommen. Doch die Kinder, die Frank Elstner noch montagsmalend ins Bett gebracht hatte, wussten zu jener Zeit schon längst um den wirklichen Status Quo. Bevor sie starb, siechte die Sendung sehr lange und dabei sondergleich tapfer, denn sie war nun wie die Erinnerung an den Duft des Tannenbaumes am ersten Weihnachtstag, voll der Assoziationen an frisch ausgepackte Wunderdinge unter den Leuchtkerzen oder schon aufgebaut, auf dem Wohnzimmertisch.

Wir saßen irgendwo im Reich des Lebens ... 
Wir saßen an zwei Tischen,   hier und dort.


So schrieb Christian Morgenstern. Für uns stand der andere Tisch etwas ungünstiger, es zog in den Rücken oder man sah wieder die alten Männer im Fernsehen. Oder ein Lehrer stand davor, der mit dem Kreidestück auf dumme Träumerstirnen zielte. Vielleicht ging dem Träumer gerade ein Popsong durch den Sinn, nahm ihn so ganz und gar ein und bescherte eine bessere Welt.

And I dream I'm an eagle
And I dream I can spread my wings


Weil diese ebensowenig vergehen mag, wie erwähnte Kindheit, strahlte das ZDF am selben Abend noch eine ihrer „Kultnächte“ aus, die schon im Titel die Zielgruppe zwischen 40 und 75 klar fixiert. Die Nacht war ABBA gewidmet.
... Pardon ...
Es bedarf nämlich eines Moments der Überwindung und wenn ich mich drauf einlasse, versuche ich mich stets an der Option des distanzierten Genießens oder der sophisticateten Wahrnehmung kleiner, bislang vielleicht übersehener Details - doch ich erreiche das sokratische Niveau nie, leide bitterlich mit Antigone und Haimon (hiess er nicht eigentlich Baimon?), erst recht da ich ja weiß, wie es endet. Zeigen sie noch die letzte Session? Die mit der kurzen Version von „Thank you for the music“. - Nein, zeigten sie nicht, aber eine mit Olivia Newton John und Andy Gibb. Auch wenn die vier Schweden aus dem Folk Rock kamen, waren ABBA auf der Suche nach mehr Erfolg in den USA keine lässigen Jam-Partner. Jede Geste wirkt unbeholfen oder wie einstudiert, Anni-Frid mag, nachdem Olivia Newton-John stets die Songs vorgibt, klar stellen, wer hier die Sängerin ist und karikiert behände einen operettenhaften Sopran, als sie ihren Triumph längst hat, veralbert sie die eigene Geste noch schnell, so, wie es beim lockeren Jammen ja sein muss, nur keine Ambition. Doch Anni-Frid ist kein ewiges Kind, keinem des Quartetts stünde diese Rolle. Es scheint vielmehr, als fühlten sie sich (im Unterschied zu den Wetten Dass Kanditaten) von der selbstgestellten Aufgabe beleidigt. Zu Recht, auch wenn sie von kalifornischer Eleganz lernen würden, besaßen sie Material, für das Paul Kantner oder David Crosby in den späten 70ern ihre Freak Flag verkauft hätten. Sie hatten gar, was Steely Dan fehlte und sie wussten, wie man damit Geld macht. Und sie schwangen sich im Gleichtakt mit den Grateful Dead von einer progressiven Phase zu Disco. Hier vermochten sie seit den ersten Takten von „Dancing Queen“ stets etwas besonderes: Sehnsüchte vertonen. Als Folk Band lernten sie miteinander zu singen, waren aber dritte Liga, erst Glam Rock liess sie auftrumpfen. Und wie sie dann mit seinen Mitteln an einem denkwürdigen europäischen Abend des Jahres 1974 alles wegfegten! Geschichte war nun die gerade noch lebendige Tradition eines längst erwachsenen Songwritings, welches seine letzten Verfeinerungen in berückender Schönheit präsentierte. Man höre nur die ausarrangierte Eleganz des zweitplatierten Titels „Si“ von Gigliola Cinquetti. Doch auch ihre Stimme erreicht Wolke Sieben mittels produktionstechnischer Tricks, sanft gedoppelt schimmert sie überweltlich. Man könnte fast mutmassen, Björn Ulvaeus und Benny Andersson hätten hier genau zugehört und erkannt, was aus dem bereits so zauberhaften Miteinander der Stimmen von Agnetha Fältskog und Anni-Frid Lyngstad noch entstehen könnte. Und dann bald: diese Stimmen im unerhört dramatischen Disco Glanz! Und wovon singen sie? - Alle Versuche abzuschweifen helfen nicht, ABBAs unvorgesehenes Schicksal, die ganz persönliche Tragödie in eine junge Popmusik einschreiben zu müssen, die auf diese Singer-Songwriter-Unmittelbarkeit gar nicht vorbereitet war, reisst mich stets aus der distanzierten Betrachtung. Das war ihre Arbeit: Knowing me, knowing you. Dabei fehlen in jener „Kultnacht“ Lasse Hallströms Kunstfilm-Videos, also auch jene Szene, in der die einsame Agnetha in One of us „Music from Big Pink“ von The Band aus ihrem Plattenstapel zieht. Dieser bedeutungsreiche, rührende Moment bleibt mir erspart. Doch der verwirrende Ernst von The day before you came, seine nachtblaue Dunkelheit in der doch gar kein Stern zu erkennen ist, verfolgt mich auch noch in den kommenden Tagen. Oder ist es das Ende einer Kindheit? Nicht vermeintlich materialisiert im Abgesang einer Sendung, sondern als stärkere Ware: Popsongs, innere Unruhe, nicht mehr dahin zurück können, wo sie so richtig waren und verloren sein, in ihrer neuen Richtigkeit.

Tatsächlich sitzen wir noch heute zwischen zwei Tischen. Keine Sorge, beide sind gut gedeckt, der Eine mit Brot und allen möglichen Aufstrichen vom Nutellatraum bis zur Paprika-Cashew-Vitalität, der Andere mit Kuchen und dem Kopf einer eleganten Österreicherin, dargeboten in einer mit Sägespänen ausgelegten Rieslingkiste. Über einen geschickten Spiegelmechanismus können wir diesen Kopf scheinbar auf unseren Körper setzen, wir müssen bloß kurz aufstehen und uns nach vorne beugen. Sollte der Schrecken dieses Spaßes zu arg verwirren, bringt uns ein kariertes Känguru umgehend einen neuen Zauber. Ein ewiges Gestern aus Gimmicks, Heftchen und dem Fernsehen. Kein Neil Postman hat hier abschätzig über die Flimmerkiste zu reden, will er seinen Kopf auf den Schultern behalten. Eure Ökopullis waren nicht für uns! Denn wir lernten von einem anderen Zauber als ihn der Bilderrahmen oder das Kasperletheater zu bieten vermochten. Und nur die Musik brachte den ein oder Anderen für Momente weg davon oder doch die leeren Bilderrahmen oder die Karriere. Bei alldem haben wir an all das gedacht, woran wir denken konnten, wir haben uns bemüht unseren Vorbildern nachzueifern, denn etwas Eigenes ist uns nicht eingefallen. Mag sein, daß es uns auf dem Weg auch gelungen ist, die Posen des Erwachsenen einzunehmen. Aber egal ob als zynischer Yuppie oder versteinerter (Nicht-)Ex-(weil-immer-und-ewig-)Punk, ob mittels Lebenserfahrung imitierender Psychologisierungen, als strebsamer Meisterschüler, sich aufgockelnder Agentur-König oder gar in staatstragender Bedeutungsschwere, ich würde keinem von uns auch nur einen Satz abkaufen. 

Ach, einen Epilog gibt es auch noch. Es spricht Hans-Joachim Kulenkampff:

Als Kind ist einem doch die Welt ziemlich klar - und wenn man stirbt, weiß man gar nichts.

Top, die Wette gilt!

Oliver Tepel


Quellen:
FAZ
SZ