Die Weltpresse preist nahezu im Unisono D'Angelos neues Album "Black Messiah". 15 Jahre dauerte das Warten. Fast schon ulkig, daß der folgende Text zu dem Vorgängeralbum "Voodoo" ebenfalls aus der Perspektive des Wartens geschrieben wurde, wo doch lediglich fünf Jahre seit seinem Debüt "Brown Sugar" verstrichen waren. Der Artikel beschreibt den Höhepunkt des Rimshot-Retro-Souls, sprich Questloves Beat und die Okayplayer Schule. Ebenfalls sehr prägend fungierten ex Tony! Toni! Toné! Musiker Raphael Saadiq und Amir Shaheed Muhammad von A Tribe Called Quest. Dieser Sound war nicht so sehr die Reproduktion eines gewissen Stax- oder Muscle Shoals-Klangbilds der 60er, welches den heutigen Retro-Soul auszeichnet, sondern er suchte nach der Klassik in der Moderne oder - wie es der Text nahelegt - nach der Seele in einer Musik zweieinhalb bis drei Jahrzehnte nach dem Höhepunkt des Singer-Songwriter-Souls. Die kanonische Nennung von "Marvin, Stevie, Curtis" erhielt in jenen Zeiten bald einen stereotypen Charakter. Doch für die Interessanteren - und zu denen zählten D'Angelo und Angie Stone nun zweifelsfrei - waren auch die 80er, ein Thema, vertane Chancen, Prince, zu große Schritte oder Stagnation? (Tatsächlich ebneten sie mir in diesen Gesprächen einen Weg zurück zu Sades Platten.) Noch schien HipHop der Beweger einer aktuellen, sich mit dem Begriff des Authentischen umgebenden Musik. Noch war es nicht an der Zeit auf Spannung zwischen der Idee des Authentischen und dem Retro-Geist der Klänge zu verweisen, denn diese Musik wollte noch in ein Morgen. Ein Morgen, welches wortwörtlich anbrach, als mich D'Angelo in seine Welt mit ihrem ganz eigenen Timing einführte. Ein irgendwann gegen 17 Uhr mitteleuropäischer Zeit angesetztes Interview begann mit einem Anruf aus L.A. circa 1 in der Nacht. Das Tolle, ich hatte die verstrichene Zeit mit der nochmaligen Lektüre von Hubert Fichtes "Xango" verbracht und D'Angelo wiederum einen Freund im Krankenhaus besucht. Das folgende Gespräch blieb mir weit lebendiger in Erinnerung, als die meisten Interviews. Mag sein, daß seine Bedingungen eine Rolle spielten, auch daß seine Aussagen jene Angie Stones so gut ergänzten, obwohl der Kontakt beider in jenen Tagen wohl eher dünn war. Kürzlich sah ich, daß sie in Australien wieder zusammen aufgetreten sind. Daß 15 Jahre bis zu einem weiteren Album verstreichen würden, hatte ich nicht geahnt, wenngleich die Last auf D'Angelos Schultern nach "Voodoo" noch schwerer wog. Der Retter einer Musik, die auf einen Retter wartete. Das war zuviel, Angie Stone versuchte es hier bereits zu sagen. Seine wenigen Ups und häufigeren Downs gingen zum Teil durch die Presse, während ihr eine Karriere glückte, jene letzte Chance, die sie vermutet hatte. Sah sie einmal mit enorm erkälteter Stimme auf einer Bühne nicht aufgeben. D'Angelo wiederum sah ich damals noch im selben Jahr beim Axion Beach Festival und es war wie ein in Zungen fabulierendes Mardi Gras. Heute klingt seine Rückkehr weniger nach jenem Aufbruch ins Abstrakte, sondern wie eine Weiterführung des Gefundenen zwei Jahre später. Warum es 15 wurden, werden andere erzählen.
Spex 232
März 2000 - D’Angelo / Angie Stone
Spuren
Ist Erinnern retro?
Es war still geworden. Nicht, dass alle wirklich aufgehört hätten zu reden - Im Gegenteil. Der Raum zwischen den Wörtern schrumpfte, bis still und klammheimlich jedes Echo verklang, denn mit dem Raum, so lehrt es die Akustik, verschwindet auch das Echo. Kaum jemand merkte was, aber einige spürten, dass die Musik nicht mehr so war, wie sie es kannten, von früher her: alten Schallplatten, der Kirche, vom Gospelchor vielleicht. Doch es musste diesen Klang noch Immer geben und jemand musste wohl auch in der Lage sein, ihn mit Sinn zu füllen. Wie in den Songs deren Worte nicht gänzlich unabhängig, als eingängige Werbeslogans, neben den Sounds herplapperten. Wo war die Tiefe, die, egal wie zum Klingen gebracht, als Essenz dieser Musik innewohnte?
Doch nicht viel bleibt auf Dauer. Und was bleibt, wird vielleicht auch vergessen, liegengelassen, über- sehen. Dann, wenn es jemand findet und aus irgendeinem Grund als bemerkenswert erachtet, ist es zu einer Spur aus einer anderen Zeit geworden. In einem Steinbruch an der Westküste Frankreichs wurden rund 96 Millionen Jahre alte, in Bernstein eingeschlossene Insekten gefunden. Wie der Paläontologe Didier Neraudeau von der Universität Rennes am Mittwoch dem 15. September 1999 mitteilte, handelt es sich um die ältesten jemals in Europa entdeckten Insektenfunde.
Vielleicht am selben Tag tippt ein eifriger Journalist den Pressetext zu dem so lange erwarteten zweiten Album von D'Angelo und datiert ihn 9/99. Dabei kennt er von »Voodoo« nicht mehr als den Titel und einen 6-Track-Sampler, von dem ein Stück bereits seit längerem als Single veröffentlicht ist und ein anderes nur als kurzes Fragment existiert. aber schon als im Dezember 1998 »Devils pie« erschien, war D'Angelos neuer Longplayer überfällig, gemessen an dem Veröffentlichungsturnus, der einen im Gespräch hält. Und knapp ein Jahr später ist es ein offenes Geheimnis: Das junge Genie hat massenweise Material angesammelt - also was hält ihn ab? Perfektionismus? Angst?
Beides wäre nachvollziehbar, denn kaum eine Soul/R&B-Platte der 90er wurde dermassen bejubelt, wie das Debüt des damals 20-jährigen „Brown sugar« war ein Statement, ein reduziertes, jazzig- relaxtes Album, nach dem Retro-Nuevo-Stil der 80er war es die nächste Stufe der Rückbesinnung auf die großen Namen der Soulgeschichte, und trotz seiner gleichzeitigen Verwurzelung im HipHop eine Absage an eine Musik, die sich über das sie umgebenden Business definiert und dem fetten Geld mit fetter Produktion nach der Nase tanzt. Ähnliche Platten folgten: Erykah Badus »Baduzim«, Rahsahn Pattersons Debüt, einiges vom Refugee-Clan und aus London Lynden David Hall. Doch D'Angelo verkrachte sich mit seinem Produzenten, dem selbsternannten Protege des neuen Retro-Sounds und Top-Talentscout Kedar Massenburg. So erscheint nur noch eine kurze aber hübsche Live-Platte, dann wird sein US-Label aufgelöst und er muss sich um neue Verträge kümmern. Während immer mehr Zeit verrinnt.
Im Zeichen der Referenz
Dann ist er wieder im Studio, alle Interviews, die er» Svor dem sich stetig hinauszögernden Erscheinungstermin von »Voodoo« gibt, scheinen im Studio stattzufinden, die Photosessions auch. Einmal sitzt ein gutgenährter, cremefarbener Kater neben ihm, sein Name ist Jimmy - er gehört hierhin: Electric Lady Studios, NY. Er trägt wohl auch den Geist in sich. Kehrte hier während der langen Sessions etwas zurück oder war es vielleicht nie fort - nur ganz leise geworden, übertönt von dem Lärm der Top 10, auch seines Echos beraubt und auf zweidimensionale Klischees zusammengepresst? Kümmerte sich überhaupt jemand darum, suchte jemand nach den Spuren da draußen?
Heute hat sich »Voodoo« an die Spitze der Billboard-Charts gesetzt, von 0 auf 1. D'Angelo wurde nicht vergessen, nein, sein Ruf steigerte sich ins fast Unermessliche, und man fieberte seiner Platte nach 5 Jahren entgegen wie einst der neuen Prince. Es scheint da auch bei vielen ein Bedürfnis zu geben, in D'Angelo den neuen Prince zu finden, Parallelen gibt es einige, wenn man sie sucht. Beide gelten als nahezu klassische Wunderkinder, D'Angelo spielt Piano seit seinem 5 Lebensjahr, erlernt Bass und Gitarre und beginnt mit dem Songschreiben, bevor er sich das erste Mal rasieren muss. Wie Prince ist er verschlossen in seiner Erscheinung aber von seinem Jugendidol meilenweit entfernt, D'Angelo ist ein zugänglicher Mensch, dem an Glam und Glitter nichts liegt.
Prince könnte (und wird) in »Voodoo« reinhören und Facetten seines Spiegelbildes zwischen den Tönen hervorblitzen sehen, den Prince von D'Angelos Lieblings-LP: »Sign of the times«. Was bei ihm seinerzeit scheppernd auseinanderbrach und ihn ziemlich allein ließ in einer Welt, die er nicht nur als ¡eine beschädigte sah, sondern auch spürte, das hat sich bei D'Angelo in feine Partikel zersetzt, zu leiner impressionistischen, nach innen gewandten Interpretation. D'Angelos Musik platzt nicht heraus, muss auch nicht stolpern, sondern sie sucht nach einem Zentrum in sich selbst, kreist um das Individuum. Der Sound von »Voodoo« kennt vor allem Bässe und Höhen. Auf dem ruhigen, präzisen Miteinander von Bassgitarre und Drums kann man sich ausruhen, die Platte genießen, egal ob zuhause oder im Auto oder im Café, hier wähnt man sich sicher. Ist man in Ruhe allein, kann man mühelos zu den Falsettmelodien seines Gesangs balancieren und im Takt der Rimshots weiterziehen, wie auf dem Kraterrand eines stillen Vulkans, bis man wieder beim Bass ankommt. Aber was ist, wenn das Ohr und der Körper an allen Stellen zugleich sein, alles fühlen will? Mal laden elegante Bläsersätze, Congas oder eine Gitarre dazu ein, eine Brücke über den Krater zu denken und sich im Angesicht des Ungewissen tief, tief fallenzulassen.
Ich höre jeden Abend das Trommeln.
Leise.
Es dauert bis zum Morgengrauen
Es verändert meinen Herzschlag.
Ich kann nicht im Zimmer bleibem
Ich gehe auf die Suche nach dem Vaudou, von dem her das Trommeln in den bürgerlichen Vorort einsickert.
Ich gehe den Tönen nach.
Schon unterscheide ich die Stimmen der Singenden.
Sie hören auf.
Als das Trommeln wieder einsetzt kommt es von ganz fern, aus einer anderen Richtung.
(Hubert Fichte - Xango)
Herzlichen Glückwunsch zum Chartserfolg. Wirkt er nicht wie eine Befreiung, nach der langen Arbeit?
D’ANGELO: Oh, ja sicher, das tut es. Es dauerte ziemlich lange, zweieinhalb Jahre, das alles zusammenkommen zu sehen und es zum Leben zu bringen. Ja, es ist sehr schön.
Wie bist du mit dem wachsenden Erwartungsdruck klargekommen?
D’ANGELO: Ich fühlte den Druck, aber ich versuchte mich nicht davon runterziehen zu lassen. Ich wusste, ich machte die Dinge auf die für mich beste Art und Weise. Erst am Ende fragte ich mich, ob das, was ich wollte, wirklich verstanden werden würde.
„Voodoo“ verbindet für mich zwei Pole: auf der einen Seite klingt die Musik sehr entspannt und spontan, auf der anderen Seite hört es sich so an, als sei jeder Ton einzeln durchdacht und ganz bewusst aneinandergefügt worden.
D’ANGELO: Nicht wirklich. es war alles sehr spontan. Weißt Du, ich wollte daß es roh klingt, fast wie ein Demo. Ich konnte das nicht über das gesamte Album machen, aber „Send it on“, „One mo’gin“ oder „The Line“ klingen wie ein Demo.
Was für mich so geplant wirkt ist wie ein bestimmter Vibe - mehr als nur ein Sound die Musik umschließt. Es scheint, als erzähle die ganze Platte eine Geschichte.
D'ANGELO: Danach habe ich gesucht. Auch wenn ich bis zum Ende nicht exakt wusste, wie es klingen wird, hatte ich doch vom Beginn an Visionen, wie es sich anfühlen sollte. Wir haben so viel gejammt und ich konnte nur einen kleinen Teil davon am Ende auf die Platte bringen.
Was ist Voodoo für Dich?
D'ANGELO: Voodoo ¡st ein Ritual der Afrikaner in welchem wir die Vorfahren und Götter anrufen und zu ihnen beten. Wir benutzen dazu Musik, Lied und Tanz. Der Geist ¡st fühlbar. Und das will ich auch mit Musik erreichen, es gibt heute nicht mehr viele die das versuchen. Musik und Spiritualität?
D'ANGELO: Ja, früher war Musik spiritueller. Ich wüsste es selber aber auch nicht anders zu machen, ich habe in der Kirche angefangen zu sin gen. Du warst da nicht, weil es schick war oder um hübsch auszusehen, du wolltest, dass der Geist dich erfasst. Wenn du dir Typen wie K-Ci&JoJo anhörst, merkst du es auch, sie kommen aus der selben Schule des Gospels.
Hast Du jemals an einer Voodoo Zeremonie teilgenommen?
D'ANGELO: Nein, nein. Ich wurde in einer Yoruba- Zeremonie auf Cuba initiiert. Das habe ich erst kürz- lich gemacht und ich lerne über die alten Religionen, aber ich habe Voodoo nie praktiziert. Ich habe Geschichten von Leuten auf dem Land gehört, in Carolina, die darin verwickelt waren. Und ich habe die Taten Gottes und die des Bösen, des Teufels gesehen, ich weiß, da gibt es Dinge, die wir nicht wissenschaftlich erklären können. Dinge, die wir nicht mit dem Auge sehen können und na ja, ich weiß nicht... [lacht]
Deine Initiation muss ein bedeutender Moment gewesen sein.
D’ANGELO: Ja, oh ja. Ich meine, ich bin da durch gegangen, ich habe es gespürt und ich konnte nichts Böses fühlen. Ich wollte genau wissen, was wir da tun, wie wir es tun. Denn es sollte friedlich sein und so fühlte es sich auch an.
War es so, wie Sly Stone sagt: »Africa talks to you«?
D'ANGELO: Genau so war es. Wir waren auf Cuba, aber ich fühlte mich Afrika sehr, sehr nah. Die Leute! um mich waren für mich Afrikaner, es war dope, da zu sein, weißt du. Es war so anders als alles was wir tun, was wir taten, bevor wir nach Amerika kamen. Ich kenne Videos von Voodoo-Zeremonien und die Art, in der die Menschen vom Geist in Besitz genommen werden, ist für mich nicht anders, wie wenn der Heilige Geist in der Kirche in jemand fährt und die Leute in jungen reden.
Wer schrieb die tollen Sleevenotes zu „Voodoo“?
D’ANGELO: Das war ein Typ namens Saul Williams, ein Autor und Schauspieler, ein brillianter Vosionär. Sein Vater war übrigens auch ein Prediger.
Er kritisiert die männliche Selbstverliebtheit im HipHop. Siehst Du dort zu viel Machismo?
D’ANGELO: Oh, ich bin selber ein Macho, das Album ist macho auf seine Art. Ich habe nichts dagegen, was mich stört ist Ignoranz und Leute, die Musik nicht nutzen, wofür sie bestimmt ist. Musik hat mehr Kraft, als daß man mit ihr nur zeigen sollte, wieviel Geld einer verdient. Klar, wir wollen alle Geld machen, aber das ist nicht alles, wir sollen Visionäre sein, darum geht es.
Gibt es einen Unterschied zwischen Soul und R&B?
D'ANGELO: Definitiv. R&B ist für mich Radio-Bullshit, es ist eine Verbrämung dessen, was mal Rhythm & Blues genannt wurde. Rhythm & Blues und Soul haben eine tiefere Verbindung.
Soul Musik hat einen schweren Stand seit Mitte der 80er...
D'ANGELO: ...aber gerade dann hat Prince seine besten Platten gemacht!
Gut, aber im allgemeinen reduzierte sich Soul zu reiner Balladenmusik...
D'ANGELO: ...ja, ja Luther Vandross...
Und es gab nur wenige Ausnahmen. Anita Baker vielleicht.
D'ANGELO: Oh, sie war dope als sie anfing. Sie und Sade.
Kannst Du dir vorstellen, ähnlich wie Prince, in der Zukunft explizit soziale und politische Themen anzusprechen?
D'ANGELO: Ich habe da keine Angst vor, habe michdorthin auch etwas vorgewagt, aber ich will das nicht forcieren, es wird kommen, wenn es kommen soll. Ich mag es nicht, wenn Leute zu mir predigen und ich will nicht zu anderen predigen. Das Beste ist, von deinen eigenen Erfahrungen zu sprechen.
Wie war es für Dich mit Angie Stone, der Mutter deines Sohnes, auf Voodoo zusammenzuarbeiten?
D'ANGELO: Ich kenne sie so lange und wir haben den selben Background. Ich habe sie damals kennengelernt, als ich auf der Vertical Hold-Platte mit ihr das Duett sang. Ich wusste sie ist ein guter Songwriter, wusste sie war in Sequence. Alles kommt so natürlich, wenn wir Musik machen, da ist nichts Seltsames.
Was ist also heute Soul?
Folgt man D'Angelo, rückt der Gospel wieder ins Zentrum seiner Definition. Gospel nach dem Kontakt mit dem Sex des Rhythm & Blues und der Popkultur des Rock'n'Rolls? Das mag zumindest den großstädtischen Soul der nördlichen Metropolen erklären, aber der wahre Soul, daran lassen die aktuellen Retro- Protagonisten keinen Zweifel, der kommt aus dem Süden.
Angie Stone ist ein Kind des Südens, aufgewachsen und zum Gospelchor gegangen in Columbia, South Carolina. Bis ihr eines Tages ein Konzert der Sugarhill Gang eine völlig neue Welt eröffnete. Mit zwei Freundinnen gründet sie Sequence, zieht nach New York, wo ihre heute fast legendäre Maxi »Funk you up« im November 1979 auf Sugarhill erscheint. Aber keine der weiblichen Old-School-Crews kann sich auf dem Markt etablieren. Angie singt, schreibt Songs und taucht 1993 in dem Trio Vertical Hold wieder auf. Vertical Hold stehen im Ruf, leider glücklos die ersten Schritte zu einer Soul-Rückbesinnung im modernen R&B unternommen zu haben, Angie Stones eigene Beschreibung: »ein wenig wie Loose Ends, kommerziell aber doch Soul-kompatibel« trifft die Sache deutlich besser. Eine gute schicke urbane Band. Nachdem sie, wie fast auch D'Angelo, einer Labelumstrukturierung zum Opfer fallen, verliert Angie die beiden anderen Mitstreiter und gewinnt einen neuen Freund. Bald wird sie zum zweiten Mal Mutter und veröffentlicht gut drei Jahre später mit »Black Diamond« ihr Solo-Debut, wieder steht sie an der Spitze einer deutlich auszumachenden Bewegung.
»Black Diamond« - eine CD, so elegant wie ihr Cover. Eine schillernde Retro-Soul-Platte, die nicht nur in höchsten Tönen vom Kiffen schwärmt, sondern die einem hilft, sowohl frisch verliebt als auch mit Herzweh den täglichen Abwasch zu meistern.Musik, die einen freundschaftlich begleitet. Sie haben eine spezielle Leichtigkeit, diese sehr bewusst auf die Präsenz von Angies Stimme hinproduzierten, langsamen bis midtempo Songs, Schmetterlinge, die sich schon Jahre bevor Angie Stone zum ersten mal HipHop hörte verpuppt haben müssen und nun endlich frei im Aufwind flattern. Absagen an jede Modernität? - Keinesfalls, aber ähnlich D'Angelos Musik, plädiert Mrs. Stone für den freien Zwischenraum, den Ort, der auf die nicht so einfach codierten Mitteilungen weist.
Wie fühlst Du Dich nach dem Erscheinen Deiner ersten Solo-LP?
ANGIE STONE: Extrem gesegnet und dankbar.
Auf dem Cover befinden sich viele Zitate aus dem Neuen Testament. Ist Religion ein zentraler Aspekt in deinem Leben?
ANGIE STONE: Oh, ja, das steht außer Frage.
Seit wann?
ANGIE STONE: Kindesalter. Ich war 12, 13 Jahre alt, als ich zum ersten Mal persönlich Gott spürte. Schon vorher war ich immer zur Kirche gegangen, aber dann hatte ich zum ersten Mal diese eins-zueins Erfahrung.
Welcher Gestalt?
ANGIE STONE: Berührt vom Heiligen Geist, Visionen, Träume - ich nehme dies alles sehr ernst.
Ist Musik für Dich ein Weg, sich Gott zu nähern?
ANGIE STONE: Klar! Auf der Hülle meiner CD kannst Du eine versteckte Inschrift finden...
»Psalm 100:1-2: Jauchzet dem Herrn, alle Welt! 2 - Dienet dem Herrn mit Freuden, kommt vor sein Angesicht mit Frohloken«
...Gott will, dass Du singst.
Hallo Leser! Zuckst Du gerade zusammen, willst doch lieber zurück zu den Themen, über die sich hier im allgemeinen Musiker auslassen? Verständlich. Aber vielleicht hilft es, etwas jenseits unseres alltäglichen Umgangs mit Musik herauszufinden. Angie Stones Platte läuft bestimmt auch schon in deinem Szene-Café, gut möglich, dass sich der Mille Plateaux-Fan am Nebentisch gerade öffentlich zu Destiny's Child bekennt (oh, ja!). Es scheint, als würde der Glauben an eine lineare, rationale Moderne endlich Risse bekommen, nachdem er nun so lange die allgemeine Wahrnehmung popkultureller Codes inklusive der Bereitschaft zum schnellen Urteil über dies und das beherrschte. Aber was ¡st nun mit dem Erinnern? Ist es nur eine Retro-Strategie oder überhören wir die Echos und übersehen wir die Spuren nicht auch, weil es uns so schrecklich zäh scheint, immer wieder Fragen stellen zu müssen?
Was ist Freiheit für Dich?
ANGIE STONE: Nicht in einer emotionalen oder mentalen Falle zu stecken, denn das kann Dir die Menschlichkeit, deinen Geist, rauben. Frei davon, sich von Freunden, Familie oder selbst der Liebe täuschen zu lassen, denn diese Dinge sind nur eine große Täuschung, solange Du nicht Gott in den Vordergrund lässt.
Wie war die Zusammenarbeit mit D'Angelo auf Deiner und seiner Platte?
ANGIE STONE: Es waren zwei unterschiedliche Situationen. Ich habe absichtlich wenig mit ihm auf meiner Platte kollaboriert, weil es da draußen sicher eine ganze Menge Leute gab, die dachten, ich brauchte ihn, um selber eine Platte machen zu können. Mir ging es also auch darum, das Gegenteil zu beweisen.
Worum ging es Dir noch?
ANGIE STONE: Es ging um Realität. Ich denke, »Black Diamond« reaches and teaches.
Fehlen diese Dimensionen dem aktuellen R&B?
ANGIE STONE: Ja. Aber ich finde es an diesem Punkt wichtig, nicht die Stile zu verwechseln, denn die Leute bringen sie heutzutage gerne durcheinander. R&B, HipHop und Soul sind sehr verschieden. Soul ist sehr emotional, vom Geist und der Seele bestimmt. R&B ist hip, hat weniger Ursprüngliches und mehr kurzlebige Elemente. Und HipHop ¡st halt eine straighte Kids-Musik, aber sie schafft keine Standards. Standards schafft eine zeitlose Musik wie Soul. Dagegen ist HipHop nur schick und R&B belanglos. Ich selber bin ein Produkt all dieser Stile und ich versuche, in meiner Musik Brücken zu bauen, Verbindungen zu schaffen. Ich denke, meine Musik ist eine gute und spirituelle Musik und wird von der Kritik gewürdigt, weil sie alle Menschen erreicht: alt, jung, schwarz, weiß, schwul oder straight.
Gibt es eine Verbindung zur Vergangenheit in der Musik?
ANGIE STONE: Ja genau, sie trägt Dich zurück zu Gladys Knight, zu Marvin Gaye und Sam Cooke. Ich wollte etwas wiederbeleben und es gleichzeitig an heute anknüpfen.
Jemand wie Prince hat früher sein Publikum jedes Jahr mit einem neuen Sound überrascht.
ANGIE STONE: Prince hat aber so auch seine Karriere ruiniert. Er ist und bleibt für mich ein Genie, ganz egal was ich von seinen neuen Sachen halte und ich glaube als Fan, dass er immer wieder Musik machen kann, die mich völlig begeistert aber... weißt du, es ist das Selbe mit D'Angelo, er will so schnell wachsen, dass er sein Publikum verwirren könnte. Ich selber bin da etwas anders, ich möchte so konsistent arbeiten wie Anita Baker oder Sade. Ich möchte mein Publikum nicht enttäuschen. Mary [J. Blige] kann sich das nach vier Top-Alben leisten, ich nicht, ich habe nur Platten gemacht mit Bands, an die sich niemand mehr erinnert.
Was ist die Seele in der Musik?
ANGIE STONE: Es hat für mich mit Einflüssen und Emotionen zu tun. Gospel-Wurzeln, Spiritual-Wurzeln, es bedeutet, mit dir selber eins zu werden. Soul zu kennen heißt, die Seele in dir selber zu kennen. Für mich hat das auch viel mit der Kirche zu tun, mit der Leidenschaft, Gott zu dienen. Ich glaube, dass alle großen Soul-Künstler sehr religiös sind. Ich denke da an Lauryn Hill, Erykah Badu, an Aretha Franklin, Maxwell, D'Angelo, all die Leute.
Kannst du eine ähnliche Spiritualität im Country finden?
ANGIE STONE: Absolut! Ich liebe Country Musik, gerade heute noch habe ich mir eine Patsy Cline-Platte gekauft. Mein Traum ist, eines Tages mit irgendeinem Country Sänger ein Duett zu singen, ich möchte da gerne die Leute schockieren.
Aber was ist nun mit der Seele? Ist sie etwas altes, vertrautes, zu dem man immer zurückkehren kann? Oder ist sie immer anders, wie durch andere geheim in uns verortet? D'Angelos und Angie Stones Soulverständnis kann beides nahelegen. Oder besser: es entwirft in seinen so interessanten Widersprüchen und Wechselspielen zwischen bewusster Konstruktion und betonter Authentizität etwas schillerndes vielseitiges, das gleichsam neu und zig mal gehört klingt. Ein Geheimnis? Wird man mir es nachsehen, wenn ich nun auch noch den ganzen Text mit einem Fragezeichen beende?
Oliver Tepel
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Montag, 5. Januar 2015
Sonntag, 3. März 2013
Vor fast 15 Jahren (Spex 216 revisited)
Vor einigen Wochen fragte ein Facebook Freund nach Glam Rock in Deutschland. Gab es da was? - Schweigen. Tatsächlich war Glam eines der vielen importierten Pop-Phänomene. Aus einer Pressevorführung von Todd Haynes "Velvet Goldmine" erwuchs 1998 die Idee eines Spex Specials. Ich erinnere mich an die Begeisterung, die ich vor allem mit Kurt Kreikenbom teilte. Ein kleiner gemeinsamer Text mit Dechiffrierungshinweisen zu Haynes System der Anspielungen, sowie ein leider nicht mal grandios verklungener Glam Abend im Blue Shell waren Früchte jener Begeisterung. Was mich selbst darüberhinaus dazu brachte, die Frage nach Glam in Deutschland zu stellen, weiß ich nicht mehr genau, aber er führte zu einem der sinnvolleren Vorhaben meines popjournalistischen Tuns: Einige Telefonate, Treffen, Recherchearbeit eben, um eine kleine, kaum wirklich greifbare Geschichte aufzuschreiben. Ich habe über die Jahre öfters an den Text gedacht, nicht zuletzt wegen der Begegnung mit Klaus Dinger. Heute erscheint mir der Text zum Teil als eine vertane Chance. Es auf die Begrenzung der Zeichenzahl zu schieben, wäre nicht ganz richtig. Vielleicht war es der Versuch, meinen persönlichen Hippie Flirt der vorhergehenden 12 Jahre abzuschütteln oder nur ein didaktischer Trick um Grenzen aufzuzeigen, doch es stören mich heute Begriffe und Wertungen. Andererseits bleibt der Text eben ein kleiner Einblick in eine Zeit, welche zu wutschnaubenden Leserbriefen in der SOUNDS führte und die einen Wandel ankündigte, dessen Revival in den 90ern dann doch etwas trist ausfiel. Gerade posiert auf dem H&M Poster ein Mädchen mit Tammy Wynette Frisur, trashigem Nietenjackett und E-Gitarre. Es geht wieder los. Also, vielleicht als Anlass zu weiterer Recherche oder einfach nur so:
A GERMAN GLITZER-GESCHICHTE
ALLES HALBSTARKE
Vor einigen Wochen sah ich im Fernsehen Ausschnitte aus einer Wochenschau von 1958. Elvis, der suspekte amerikanische Jugendverführer, musste gerade seinen Gl-Dienst in Deutschland ableisten und wurde offensichtlich direkt nach seiner Ankunft zu einem Rock 'n'Roll- Nachwuchswettbewerb geschleppt. Der zynische Kommentar des Sprechers mündet in eine an Elvis gerichtete Weisheit: »Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus.«
Was mich an den Bildern dieses Wettbewerbs faszinierte, war nicht, daß es eine musikalische Reaktion auf Rock 'n'Roll in Deutschland gab, sondern, wie dieser wilde Lärm, der nur noch vom radebrechenden Englisch des jeweiligen Sängers übertönt wurde, explodierte, und dabei in keiner Relation selbst zu den gelungensten Aufnahmen heimischer Rock'n'Roller wie Ted Herold oder Jeff Jackson [Paul Würges] stand. Der Lärm fand seine Entsprechung eher in den Ausschreitungen, die zwischen '56 und '58 regelmäßig im Anschluß an Rock'n'Roll- Filmvorführungen in diversen Großstädten stattfanden. Diese betont männliche Kultur der »Halbstarken« stellte keinen politischen Anspruch, der dem existentialistischer Studentencafés vergleichbar gewesen wäre, sie forderte nur: »Wir wollen Rock'n'Roll!«
Während die späteren Glam-Protagonisten sich noch in einer Lebensphase irgendwo zwischen Kinderwagen und Grundschule befanden, verloren fast zeitgleich mit der legendären ersten Rock'n'Roll-Krise die Befreiungsversuche der »Halbstarken« aus dem Nachkriegsmief an Bedeutung. Einzelne begründeten noch die Motorrad-und-Lederkombi-Rockerkultur, die meisten aber wurden einfach erwachsen und verschwanden spurlos in der Arbeitswelt des Wirtschaftswunders.
KEINE MODS, LAUTER HIPPIES
Da Merseybeat und British Invasion gegen Mitte der Sechziger hierzulande keine nennenswerte Mod-Bewegung hervorbrachten, hieß die nächste relevante Jugend beziehungsweise Protestkultur Hippie. Was da in der zweiten Hälfte der Sechziger als freudig-rebellische Selbsterfahrungs-Partykultur startete, versackte später entweder in politischem Dogmatismus oder gruppentherapeutischem Diskussionszwang, Inhaltismus oder Esoterik. Im Zeichen der Woodstock-Schlammschlacht erschien Stil als obsolet, und all die grausigen Hippie-Klischees begannen sich durchzusetzen, die später in der Friedensbewegung oder in den Pädagogischen Fakultäten ihren endgültigen Tiefpunkt fanden. Derweil etablierten sich Hippies recht schnell auch als Radioredakteure und schufen mit SOUNDS die erste deutsche Zeitung für populäre Musik, die sich nicht an ein Teenie-Publikum wandte. Für die Musikbewertung galt fortan die Formel: kommerziell = anspruchslos. Diesen Bruch mit den Teeniewerten begrenzt auch heute noch (beziehungsweise wieder) das Urteil vieler, egal ob Indie-Klientel oder Elektro-Avantgarde-Fan.
Zu Beginn der Siebziger hießen die Wahlmöglichkeiten für den jungen Hippie, der von den coolen Älteren, die zwei Jahrgangstufen über ihm waren und auf dem Schulhof das Sagen hatten, beachtet und akzeptiert werden wollte: Progressive oder ein Mix aus Westcoast- und Southern-Rock. Natürlich ging auch beides durcheinander, aber wichtig war: Hier spielten versierte, sprich: ernsthafte Musiker Stücke, die schon allein durch ihre Länge völlig unkommerziell waren. Ich bin mir nicht sicher, ob den Schulhofkönigen jemals in den Sinn kam, irgendwer könnte sich über so ein tiefempfunden stimmiges Weltbild hinwegsetzen.
Als 1972 der geschminkte Alice Cooper mit seiner Horror-Hardrockshow auch den ein oder anderen seriösen SOUNDS-Mitarbeiter zu begeistern vermochte, war das noch kein wirkliches Indiz für einen Paradigmenwechsel, denn in den einschlägigen Artikeln wurde vor allem Coopers Showmanship belobigt. Immerhin verärgerte man so Yes- und Gentle Giant-Fans. Aber niemand dachte daran, denen auch noch das neueste Ding aus England vorzusetzen und so mussten andere, zunächst sehr wenige, kommen, die David Bowie und Roxy Music den Weg in deutsche Städte bereiteten
Daß Glam hier überhaupt stattfand, ist von mehr als nur anekdotischem Interesse. In der Zusammenschau mit »Velvet Goldmine« geht einem auf, wieso: da sieht man den künftigen Glitzer-Rock-Star als den coolsten Mod des Schulhofs. Auch die ersten britischen Hippies rekrutierten sich aus Mod-Kreisen: Die Idee, aus einem Stil ganze Identitäten zu konstruieren, war also tief verwurzelt im Bewußtsein einer ganzen Generation. Diese Mod- Szene fehlte nun aber, wie gesagt, hierzulande fast völlig, eine entsprechende Genealogie ist also nicht übertragbar. Die Leute, die hier circa 1972 mit Glam in Verbindung kamen, hatten möglicherweise Velvet Underground, Captain Beefheart oder Alice Cooper gehört; vielleicht störte sie auch nur der allgemeine Hippie-Konsens.
ROCKY HORROR HAMBURG SHOW
Den älteren Hippie-Bruder ärgern zu können, war ein willkommener Nebeneffekt für einen der drei Hamburger Gymnasiasten, die unter den ersten waren, denen die von David Bowie und Roxy Music eröffneten Möglichkeiten aufgingen. Der leider zu früh verstorbene Stefan Ohrt hatte Bowie schon vor dem "Ziggy Stardust"-Durchbruch für sich entdeckt und bildete zusammen mit Nicola Reidenbach und Sven Kirsten eine dieser seltsamen Zufallsgemeinschaften von Menschen, die im rechten Moment zueinanderfinden. Glam funktionierte in Hamburg auch dank der Nähe zu London: Platten, Informationen und Kleidung wurden von der Kings Road nach HH geschleppt. Andere Accessoires konnte man in einem Rockerladen, der bereits seit den Sechzigern auf dem Kiez existierte, besorgen. Lustiger- und gar nicht mal unpassender weise sahen die Rocker in den androgyn gestylten Menschen Geistesverwandte, mit denen man eine Abneigung gegen Kifferhippies teilte. Mit ihrer Idee von Rockerästhetik zielte die ganz junge Suzi Quatro genau auf diese Schnittmenge.
Ein weiterer Faktor sprach für Hamburg als Schauplatz: Die Reeperbahn garantierte für einen Sexmarkt, dessen Möglichkeiten scheinbar weniger im Widerspruch mit der in Glam angelegten Auflösung von Gender-Identitäten stand, als die durchschnittliche Hippiemoral. Dabei berührten sich Glam und das Reeperbahnambiente nur in einem historischen Moment: dem einzigen Livegig der New York Dolls in der BRD. Neben einem Fernsehauftritt im Musikladem (man erinnere sich an Manfred Sexauer und die Nummerngirls) spielten sie im Salambo, dem einstigen Star-Club,der nun für harte Hetero- sowie Schwulen-Sexshows stand. Auf dem Backcover der zweiten New-York-Dolls-LP sieht man die Band just vor diesem Laden posen. Abseits der Reeperbahn existierte ein Club namens Fucktory, in dem auch Glam-Rock aufgelegt wurde und der ansonsten seinem Namen alle Ehre machte. Was auch immer dort wirklich stattfand, öffentlicher Sex oder gar schwarze Messen, wie es die Lokalpresse unterstellte, es reichte jedenfalls für die Polizei aus, den Club eines Tages ein für allemal dichtzumachen.
Was in »Velvet Goldmine« der Figur des Journalisten in seinen Teenagertagen bei der Selbstfindung half,forderte für andere erstmal nur den Mut zur Pose: Junge Männer bemühten sich plötzlich um ein Bi-Image, das - wenn schon nicht zur Befreiung des Selbst - doch zum Bruch mit dem tendenziös machoistischen Hippiegehabe und zum Spießerärgern in der Straßenbahn taugte. Es mögen in ganz Hamburg ungefähr zehn Leute gewesen sein, die schnell genug reagiert hatten und nun den Spaß haben konnten, auf Parties von Hippies aus bildungsbürgerlichem Elternhaus solange die allgemeinen Gespräche zu boykottieren, bis sie als Faschisten beschimpft wurden. So hatte man auch gleich den Vorwand, den Hausrat ein wenig zu demolieren. Hier kehrte das Halbstarkenethos als Alternative zum Ausdiskutierzwang zurück. Neben dem zur gleichen Zeit stattfindenden ersten Rock' n'Roll- Revival setzte man so Zeichen für das, was mit Punk und danach kommen sollte: Das zu Negierende fand sich nicht in erster Linie bei der Generation der Eltern, sondern mindestens im gleichen Maße auch in der Kultur der älteren Geschwister. Die Argumentation wurde dabei sowohl unnachgiebiger wie strategischer.
Daß die Hippies bei der Hamburger SOUNDS-Redaktion auch nichts kapierten, half fürs erste, den immer wichtiger werdenden hippen Vorsprung zu halten. Was sich gleichzeitig in den Charts anbahnte, interessierte dabei nur wenig. Es leuchtet in mancher Hinsicht völlig ein, aber die Ablehnung aller aufkommenden Teenieversionen von Glam (mit Ausnahme von T. Rex) wiederholte leider auch das Anspruch-versus-Trash-Klischee der SOUNDS. Nicola Reidenbach und Sven Kirsten stutzen beide schon bei der Erwähnung des Begriffes Glam-Rock: »Glam, das waren doch The Sweet oder Slade, damit hatte ich nix am Hut.« Andererseits konnte man nun auch spaßeshalber wieder Bravo lesen, denn alles was dem »großen Sinn« (für den eben Hippies standen) ein Schnippchen schlug, war nützlich.
LA DÜSSELDORF, MUNICH
Weiter südlich, in Düsseldorf, spielten Kraftwerk und Neu! schon den Soundtrack für Bowies und Enos Post- Glam-Phase. Die dortige Szene zwischen Kunsthochschule und aufkommender Werbewirtschaft war ein starkes Gegengewicht zum Hippie-Konsens, Das Schaffen von Klaus Dinger (Ex-Kraftwerk, -Neu!, -La Düsseldorf und heute La!Neu?) besitzt dabei einige Gemeinsamkeiten mit Glam. »Ziggy Stardust traf für mich recht gut den Geist der Zeit« erzählt er, um eine Ecke seines eigenen Paralleluniversums zu beschreiben. Hier wie dort wurde bewußt Pop Art interpretiert, und im Unterschied zur (rückwärtsweisenden) Entdeckung des Zitats bei Roxy Music und Bowie erschloß Dinger (vorausdeutend) neue Technologien, um sie für eine eigene Ästhetik zu verwenden. Wenige Jahre später war Düsseldorf dann Schauplatz der ersten deutschen Punkszene.
Noch weiter südlich wurde Glam emphatischer rezipiert und zelebriert als anderswo. Ingeborg Schober erzählt, daß die ersten gestylten Menschen 1972 beim Queen-Konzert in München auftauchten. Als ein Jahr darauf Roxy Music das heutige Volkstheater beehrten, glich die Szenerie keineswegs den bemitleidenswerten Bildern von einem deutschen Roxy-Publlkum im letzten Whirpool-Video. Viele waren geschminkt, hatten die langen Haare abgeschnitten und gefärbt, trugen enge, hochgekrempelte Hosen, hohe Stiefel mit oder ohne Plateausohlen und silberne Bolerojäckchen. Nicht nur für einen Ex-Amon Düül- und Embryo-Musiker wie Jörg Evers war das ein willkommener Anlass, dem Hippiekommunen-Diktat zu entkommen. München tat sich nicht schwer mit dem Wandel, stellte die Stadt doch schon seit Mitte der Sechziger ihren Anspruch als flexible Modestadt unter Beweis. Hier antworteten ansässige junge Modemacher schnell auf das neuerwachte Bedürfnis nach Style und ersetzten so die fehlende geographische Anbindung an London oder Amsterdam. Wenn das silberbejackte Glitzerpublikum dann zwei Jahre später einem Bryan Ferry im weißen Tuxedo gegenüberstand, zeigte sich dabei auch ein amüsanter Zeitverzögerungseffekt.
Immerhin: Das Tiffany, vorher zum Live-Club abgestiegen, fungierte wieder als Disco, wo nun Glam und Philly-Sound zusammenklangen. Dazu tanzte die Szene um die Filmhochschule (Cleo Kretschmer etwa war überzeugter Roxy-Music-Fan), und in irgendwelchen Ecken wurde der »Sound of Munich« vorbereitet. Noch deutlicher reagierten einige Musiker um Jörg Evers: Anfang 1974 veröffentlichten sie als 18 Karat Gold mit »All-Bumm« die erste und einzige deutsche Glam-Rock- LP (sieht man mal von einigen Glam-Spuren bei Can und Kraan ab). Zu dieser Zeit war dann auch SOUNDS bereit, diese Platte als Alternative zum Krautrockverdruß anzupreisen. Bis dahin waren der »England-Korrespondent« Duncan Fallowell und Ingeborg Schober mit ihren Vorlieben allein auf weiter Flur gewesen. Besonders Frauen meldeten sich laut Ingeborg Schober auf Ihre hart erkämpften Artikel und Radiosendungen hin. Einerseits berührte das Konzept der Androgynität vor allem die männliche Sexualität, denn außer Suzi Ouatro mangelte es an weiblichen Glam-Rock-Figuren (was im schlimmsten Fall nur alte Rollenmodelle verfestigte). Andererseits bot Marc Bolan für viele Mädchen eine faire Alternative zu Led Zeppelins Jungsmusik mit Machoposen und befreite Frauen vom Wollpulloverdiktat,
STARDUST
Zweifelsöhne war Glam eine Laune, mußte eine Laune sein. Dort, wo es glitzerte, wechselten die Identitäten und Moden natürlich kontinuierlich und ließen genug Platz für einen Pragmatismus, der den Hippies nicht geheuer war. So passte man sich für den Besuch bei der eigentlich doch ganz netten Hippie Tante auf dem Land auch mal entsprechend an, um Konflikten oder Stil-Fragen aus: dem Weg zu gehen Die Ökos selber zeigten sich recht resistent gegen alles, was mit Glam hierzulande seinen Anfang nahm. Weder die Popper, die den Hedonismus von Glam bald in eine neoliberale Ideologie verfrachteten, noch Punk konnten ihnen wirklich viel anhaben, Sie predigten weiterhin: »sei selbstauthentisch«, hatten aber gelernt, wie man damit Geld verdient. Glam wiederum führte nicht selten zu Medien- oder Werbe-Karrieren.
Das Spiel mit Identitäten schillerte noch mal Anfang der Achtziger (siehe auch Ingeborg Schobers Beitrag im Sammelband »But I like it«, Reclam Junior), und diesmal war auch SOUNDS auf der Höhe der Zeit (sowie auf dem Weg in den Konkurs). Wie sich Ironisierung und Zitat als Strategie selbst abschafften und dann doch wieder auftauchten, wussten diese Seiten regelmäßig zu berichten, und vergaßen darüber irgendwann, wie der Soundtrack für die besseren jugendlichen Seifenopern klingen könnte.
Oliver Tepel
Danke für Informationen und Unterstützung an Ingeborg Schober, Nicola Reidenbach, Sven Kirsten, Jörg Evers, Klaus Dinger, Diedrich Diederichsen, Manfred von Papen, Petra Fuchs & Stefan Wood sowie Horst Knies.
[Erschienen in: SPEX 216 - November 1998]

ALLES HALBSTARKE
Vor einigen Wochen sah ich im Fernsehen Ausschnitte aus einer Wochenschau von 1958. Elvis, der suspekte amerikanische Jugendverführer, musste gerade seinen Gl-Dienst in Deutschland ableisten und wurde offensichtlich direkt nach seiner Ankunft zu einem Rock 'n'Roll- Nachwuchswettbewerb geschleppt. Der zynische Kommentar des Sprechers mündet in eine an Elvis gerichtete Weisheit: »Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus.«
Was mich an den Bildern dieses Wettbewerbs faszinierte, war nicht, daß es eine musikalische Reaktion auf Rock 'n'Roll in Deutschland gab, sondern, wie dieser wilde Lärm, der nur noch vom radebrechenden Englisch des jeweiligen Sängers übertönt wurde, explodierte, und dabei in keiner Relation selbst zu den gelungensten Aufnahmen heimischer Rock'n'Roller wie Ted Herold oder Jeff Jackson [Paul Würges] stand. Der Lärm fand seine Entsprechung eher in den Ausschreitungen, die zwischen '56 und '58 regelmäßig im Anschluß an Rock'n'Roll- Filmvorführungen in diversen Großstädten stattfanden. Diese betont männliche Kultur der »Halbstarken« stellte keinen politischen Anspruch, der dem existentialistischer Studentencafés vergleichbar gewesen wäre, sie forderte nur: »Wir wollen Rock'n'Roll!«
Während die späteren Glam-Protagonisten sich noch in einer Lebensphase irgendwo zwischen Kinderwagen und Grundschule befanden, verloren fast zeitgleich mit der legendären ersten Rock'n'Roll-Krise die Befreiungsversuche der »Halbstarken« aus dem Nachkriegsmief an Bedeutung. Einzelne begründeten noch die Motorrad-und-Lederkombi-Rockerkultur, die meisten aber wurden einfach erwachsen und verschwanden spurlos in der Arbeitswelt des Wirtschaftswunders.
KEINE MODS, LAUTER HIPPIES
Da Merseybeat und British Invasion gegen Mitte der Sechziger hierzulande keine nennenswerte Mod-Bewegung hervorbrachten, hieß die nächste relevante Jugend beziehungsweise Protestkultur Hippie. Was da in der zweiten Hälfte der Sechziger als freudig-rebellische Selbsterfahrungs-Partykultur startete, versackte später entweder in politischem Dogmatismus oder gruppentherapeutischem Diskussionszwang, Inhaltismus oder Esoterik. Im Zeichen der Woodstock-Schlammschlacht erschien Stil als obsolet, und all die grausigen Hippie-Klischees begannen sich durchzusetzen, die später in der Friedensbewegung oder in den Pädagogischen Fakultäten ihren endgültigen Tiefpunkt fanden. Derweil etablierten sich Hippies recht schnell auch als Radioredakteure und schufen mit SOUNDS die erste deutsche Zeitung für populäre Musik, die sich nicht an ein Teenie-Publikum wandte. Für die Musikbewertung galt fortan die Formel: kommerziell = anspruchslos. Diesen Bruch mit den Teeniewerten begrenzt auch heute noch (beziehungsweise wieder) das Urteil vieler, egal ob Indie-Klientel oder Elektro-Avantgarde-Fan.
Zu Beginn der Siebziger hießen die Wahlmöglichkeiten für den jungen Hippie, der von den coolen Älteren, die zwei Jahrgangstufen über ihm waren und auf dem Schulhof das Sagen hatten, beachtet und akzeptiert werden wollte: Progressive oder ein Mix aus Westcoast- und Southern-Rock. Natürlich ging auch beides durcheinander, aber wichtig war: Hier spielten versierte, sprich: ernsthafte Musiker Stücke, die schon allein durch ihre Länge völlig unkommerziell waren. Ich bin mir nicht sicher, ob den Schulhofkönigen jemals in den Sinn kam, irgendwer könnte sich über so ein tiefempfunden stimmiges Weltbild hinwegsetzen.
Als 1972 der geschminkte Alice Cooper mit seiner Horror-Hardrockshow auch den ein oder anderen seriösen SOUNDS-Mitarbeiter zu begeistern vermochte, war das noch kein wirkliches Indiz für einen Paradigmenwechsel, denn in den einschlägigen Artikeln wurde vor allem Coopers Showmanship belobigt. Immerhin verärgerte man so Yes- und Gentle Giant-Fans. Aber niemand dachte daran, denen auch noch das neueste Ding aus England vorzusetzen und so mussten andere, zunächst sehr wenige, kommen, die David Bowie und Roxy Music den Weg in deutsche Städte bereiteten
Daß Glam hier überhaupt stattfand, ist von mehr als nur anekdotischem Interesse. In der Zusammenschau mit »Velvet Goldmine« geht einem auf, wieso: da sieht man den künftigen Glitzer-Rock-Star als den coolsten Mod des Schulhofs. Auch die ersten britischen Hippies rekrutierten sich aus Mod-Kreisen: Die Idee, aus einem Stil ganze Identitäten zu konstruieren, war also tief verwurzelt im Bewußtsein einer ganzen Generation. Diese Mod- Szene fehlte nun aber, wie gesagt, hierzulande fast völlig, eine entsprechende Genealogie ist also nicht übertragbar. Die Leute, die hier circa 1972 mit Glam in Verbindung kamen, hatten möglicherweise Velvet Underground, Captain Beefheart oder Alice Cooper gehört; vielleicht störte sie auch nur der allgemeine Hippie-Konsens.
ROCKY HORROR HAMBURG SHOW
Den älteren Hippie-Bruder ärgern zu können, war ein willkommener Nebeneffekt für einen der drei Hamburger Gymnasiasten, die unter den ersten waren, denen die von David Bowie und Roxy Music eröffneten Möglichkeiten aufgingen. Der leider zu früh verstorbene Stefan Ohrt hatte Bowie schon vor dem "Ziggy Stardust"-Durchbruch für sich entdeckt und bildete zusammen mit Nicola Reidenbach und Sven Kirsten eine dieser seltsamen Zufallsgemeinschaften von Menschen, die im rechten Moment zueinanderfinden. Glam funktionierte in Hamburg auch dank der Nähe zu London: Platten, Informationen und Kleidung wurden von der Kings Road nach HH geschleppt. Andere Accessoires konnte man in einem Rockerladen, der bereits seit den Sechzigern auf dem Kiez existierte, besorgen. Lustiger- und gar nicht mal unpassender weise sahen die Rocker in den androgyn gestylten Menschen Geistesverwandte, mit denen man eine Abneigung gegen Kifferhippies teilte. Mit ihrer Idee von Rockerästhetik zielte die ganz junge Suzi Quatro genau auf diese Schnittmenge.
Ein weiterer Faktor sprach für Hamburg als Schauplatz: Die Reeperbahn garantierte für einen Sexmarkt, dessen Möglichkeiten scheinbar weniger im Widerspruch mit der in Glam angelegten Auflösung von Gender-Identitäten stand, als die durchschnittliche Hippiemoral. Dabei berührten sich Glam und das Reeperbahnambiente nur in einem historischen Moment: dem einzigen Livegig der New York Dolls in der BRD. Neben einem Fernsehauftritt im Musikladem (man erinnere sich an Manfred Sexauer und die Nummerngirls) spielten sie im Salambo, dem einstigen Star-Club,der nun für harte Hetero- sowie Schwulen-Sexshows stand. Auf dem Backcover der zweiten New-York-Dolls-LP sieht man die Band just vor diesem Laden posen. Abseits der Reeperbahn existierte ein Club namens Fucktory, in dem auch Glam-Rock aufgelegt wurde und der ansonsten seinem Namen alle Ehre machte. Was auch immer dort wirklich stattfand, öffentlicher Sex oder gar schwarze Messen, wie es die Lokalpresse unterstellte, es reichte jedenfalls für die Polizei aus, den Club eines Tages ein für allemal dichtzumachen.
Was in »Velvet Goldmine« der Figur des Journalisten in seinen Teenagertagen bei der Selbstfindung half,forderte für andere erstmal nur den Mut zur Pose: Junge Männer bemühten sich plötzlich um ein Bi-Image, das - wenn schon nicht zur Befreiung des Selbst - doch zum Bruch mit dem tendenziös machoistischen Hippiegehabe und zum Spießerärgern in der Straßenbahn taugte. Es mögen in ganz Hamburg ungefähr zehn Leute gewesen sein, die schnell genug reagiert hatten und nun den Spaß haben konnten, auf Parties von Hippies aus bildungsbürgerlichem Elternhaus solange die allgemeinen Gespräche zu boykottieren, bis sie als Faschisten beschimpft wurden. So hatte man auch gleich den Vorwand, den Hausrat ein wenig zu demolieren. Hier kehrte das Halbstarkenethos als Alternative zum Ausdiskutierzwang zurück. Neben dem zur gleichen Zeit stattfindenden ersten Rock' n'Roll- Revival setzte man so Zeichen für das, was mit Punk und danach kommen sollte: Das zu Negierende fand sich nicht in erster Linie bei der Generation der Eltern, sondern mindestens im gleichen Maße auch in der Kultur der älteren Geschwister. Die Argumentation wurde dabei sowohl unnachgiebiger wie strategischer.
Daß die Hippies bei der Hamburger SOUNDS-Redaktion auch nichts kapierten, half fürs erste, den immer wichtiger werdenden hippen Vorsprung zu halten. Was sich gleichzeitig in den Charts anbahnte, interessierte dabei nur wenig. Es leuchtet in mancher Hinsicht völlig ein, aber die Ablehnung aller aufkommenden Teenieversionen von Glam (mit Ausnahme von T. Rex) wiederholte leider auch das Anspruch-versus-Trash-Klischee der SOUNDS. Nicola Reidenbach und Sven Kirsten stutzen beide schon bei der Erwähnung des Begriffes Glam-Rock: »Glam, das waren doch The Sweet oder Slade, damit hatte ich nix am Hut.« Andererseits konnte man nun auch spaßeshalber wieder Bravo lesen, denn alles was dem »großen Sinn« (für den eben Hippies standen) ein Schnippchen schlug, war nützlich.
LA DÜSSELDORF, MUNICH
Weiter südlich, in Düsseldorf, spielten Kraftwerk und Neu! schon den Soundtrack für Bowies und Enos Post- Glam-Phase. Die dortige Szene zwischen Kunsthochschule und aufkommender Werbewirtschaft war ein starkes Gegengewicht zum Hippie-Konsens, Das Schaffen von Klaus Dinger (Ex-Kraftwerk, -Neu!, -La Düsseldorf und heute La!Neu?) besitzt dabei einige Gemeinsamkeiten mit Glam. »Ziggy Stardust traf für mich recht gut den Geist der Zeit« erzählt er, um eine Ecke seines eigenen Paralleluniversums zu beschreiben. Hier wie dort wurde bewußt Pop Art interpretiert, und im Unterschied zur (rückwärtsweisenden) Entdeckung des Zitats bei Roxy Music und Bowie erschloß Dinger (vorausdeutend) neue Technologien, um sie für eine eigene Ästhetik zu verwenden. Wenige Jahre später war Düsseldorf dann Schauplatz der ersten deutschen Punkszene.
Noch weiter südlich wurde Glam emphatischer rezipiert und zelebriert als anderswo. Ingeborg Schober erzählt, daß die ersten gestylten Menschen 1972 beim Queen-Konzert in München auftauchten. Als ein Jahr darauf Roxy Music das heutige Volkstheater beehrten, glich die Szenerie keineswegs den bemitleidenswerten Bildern von einem deutschen Roxy-Publlkum im letzten Whirpool-Video. Viele waren geschminkt, hatten die langen Haare abgeschnitten und gefärbt, trugen enge, hochgekrempelte Hosen, hohe Stiefel mit oder ohne Plateausohlen und silberne Bolerojäckchen. Nicht nur für einen Ex-Amon Düül- und Embryo-Musiker wie Jörg Evers war das ein willkommener Anlass, dem Hippiekommunen-Diktat zu entkommen. München tat sich nicht schwer mit dem Wandel, stellte die Stadt doch schon seit Mitte der Sechziger ihren Anspruch als flexible Modestadt unter Beweis. Hier antworteten ansässige junge Modemacher schnell auf das neuerwachte Bedürfnis nach Style und ersetzten so die fehlende geographische Anbindung an London oder Amsterdam. Wenn das silberbejackte Glitzerpublikum dann zwei Jahre später einem Bryan Ferry im weißen Tuxedo gegenüberstand, zeigte sich dabei auch ein amüsanter Zeitverzögerungseffekt.
Immerhin: Das Tiffany, vorher zum Live-Club abgestiegen, fungierte wieder als Disco, wo nun Glam und Philly-Sound zusammenklangen. Dazu tanzte die Szene um die Filmhochschule (Cleo Kretschmer etwa war überzeugter Roxy-Music-Fan), und in irgendwelchen Ecken wurde der »Sound of Munich« vorbereitet. Noch deutlicher reagierten einige Musiker um Jörg Evers: Anfang 1974 veröffentlichten sie als 18 Karat Gold mit »All-Bumm« die erste und einzige deutsche Glam-Rock- LP (sieht man mal von einigen Glam-Spuren bei Can und Kraan ab). Zu dieser Zeit war dann auch SOUNDS bereit, diese Platte als Alternative zum Krautrockverdruß anzupreisen. Bis dahin waren der »England-Korrespondent« Duncan Fallowell und Ingeborg Schober mit ihren Vorlieben allein auf weiter Flur gewesen. Besonders Frauen meldeten sich laut Ingeborg Schober auf Ihre hart erkämpften Artikel und Radiosendungen hin. Einerseits berührte das Konzept der Androgynität vor allem die männliche Sexualität, denn außer Suzi Ouatro mangelte es an weiblichen Glam-Rock-Figuren (was im schlimmsten Fall nur alte Rollenmodelle verfestigte). Andererseits bot Marc Bolan für viele Mädchen eine faire Alternative zu Led Zeppelins Jungsmusik mit Machoposen und befreite Frauen vom Wollpulloverdiktat,
STARDUST
Zweifelsöhne war Glam eine Laune, mußte eine Laune sein. Dort, wo es glitzerte, wechselten die Identitäten und Moden natürlich kontinuierlich und ließen genug Platz für einen Pragmatismus, der den Hippies nicht geheuer war. So passte man sich für den Besuch bei der eigentlich doch ganz netten Hippie Tante auf dem Land auch mal entsprechend an, um Konflikten oder Stil-Fragen aus: dem Weg zu gehen Die Ökos selber zeigten sich recht resistent gegen alles, was mit Glam hierzulande seinen Anfang nahm. Weder die Popper, die den Hedonismus von Glam bald in eine neoliberale Ideologie verfrachteten, noch Punk konnten ihnen wirklich viel anhaben, Sie predigten weiterhin: »sei selbstauthentisch«, hatten aber gelernt, wie man damit Geld verdient. Glam wiederum führte nicht selten zu Medien- oder Werbe-Karrieren.
Das Spiel mit Identitäten schillerte noch mal Anfang der Achtziger (siehe auch Ingeborg Schobers Beitrag im Sammelband »But I like it«, Reclam Junior), und diesmal war auch SOUNDS auf der Höhe der Zeit (sowie auf dem Weg in den Konkurs). Wie sich Ironisierung und Zitat als Strategie selbst abschafften und dann doch wieder auftauchten, wussten diese Seiten regelmäßig zu berichten, und vergaßen darüber irgendwann, wie der Soundtrack für die besseren jugendlichen Seifenopern klingen könnte.
Oliver Tepel
Danke für Informationen und Unterstützung an Ingeborg Schober, Nicola Reidenbach, Sven Kirsten, Jörg Evers, Klaus Dinger, Diedrich Diederichsen, Manfred von Papen, Petra Fuchs & Stefan Wood sowie Horst Knies.
[Erschienen in: SPEX 216 - November 1998]
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Donnerstag, 1. September 2011
Heute vor fünf Jahren (Spex 300 revisited)
Ich glaube, ich bin ein langsamer Mensch und gewisse Themen bleiben mit einer erstaunlichen Beharrlichkeit bei mir oder sie brauchen schlichtweg ihre Zeit um einzusickern, das Denken zu verändern und rückwärts durch die Strukturen hindurch Änderungen auszuführen. Es waren ein paar aktuelle Anlässe, Fragen zum Schreiben über Musik, welche mich an den Text erinnerten doch was genau drin stand, hatte ich längst in weiten Teilen vergessen. Vielleicht zu recht. Doch ich mag auch den Gedanken an diese späte Zeit des Kölner Musikschreibens in der noch mal so viel möglich war und es in der Regel kaum jemand bemerkte. Der ungehörte Pathos erspart Handschütteln und Ohrwatschen gleichermaßen, mag man denken, aber eigentlich war es viel besser: Es war die Zeit, in welcher der Pathos gänzlich abgeschafft wurde und das "Egal" einem mit nüchterner Macht eine angenehme Bescheidenheit beibrachte. Gelernt ist diese Lektion noch nicht zur Gänze, bin halt langsam, wie erwähnt.
Manierismus in der Rockkriti
k
Überlange schlanke Finger schreiben gezirkelte Worte auf billiges Papier, sie umfassen den Füllfederhalter als wären ihre Knochen aus Gummi.
Alles Quatsch! - Denn als Zweifel und Perspektivverschiebungen die Rock-Kritik erfassten, saßen axelschweissige Bartträger an klappernden Schreibmaschinen.
Eine Rock Kritik, die ihre Funktion nicht darauf beschränken wollte, Sprüche eines Radio DJ's über die "neueste heisse Scheibe von" auf Papier zu bannen, hatte Literatur- wie vor allem Jazzkritik als Leitfaden. Was der US-Amerikanische Rolling Stone und bald darauf Creem dann an Stilen, Betrachtungsweisen und Positionen anbot, beschrieb den Kosmos einigermaßen flinker Ex-Studenten (was sich bis heute nicht großartig geändert hat) die überhaupt erst dank der Beatles und Bob Dylan auf die Idee kamen, daß sich eine detaillierte und ihr Sujet ernst nehmende Auseinandersetzung mit Rock Musik lohnte. Was dann möglich wurde, muß für eine kurze Zeit so geil und pubertär gewesen sein, da musste jeder gelungene Satz ein freches Grinsen beinhalten, schrieb man doch noch gegen eine Öffentlichkeit, denn die populäre Musik entsprach nicht dem kulturjournalistischen Jargon. Es war noch ein weiter Weg bis ins Feuilleton.
Die frühe avancierte Rockkritik wähnte sich inmitten eines goldenen Zeitalters. Was wartete hinter der nächsten Ecke, neue tolle Nachrichten von Dylan an die Welt, der Aufbruch nach der Psychedelischen Phase? - Doch es wartete der Tod. Das Altamont Rockfestival hinterließ eine Blutspur und öffnete den Blick in die Schattenwelt der neuen Errungenschaften. Als Langdon Winner in seinem Essay "the strange death of Rock'n'Roll" den Impuls der Beatles für eine neue US-Amerikanische Rockmusik pries und von einer Musik träumte, die alle Töne und Bilder seines Landes mit einschließen könnte, sickerte das Bild des Authentischen und der abbildenden Funktion in die Rock-Rezeption. Ideen aus Sturm und Drang, Klassik und Romantik tanzten so leidenschaftlich wie unbeholfen durcheinander, als müsste das Schreiben stets formales Zeugnis des Hippie Human-Be-Ins ablegen. Doch für das gab es im Jahr 1967 nur verzücktes Gestammel.
Greil Marcus und Lester Bangs waren wahrscheinlich von der Brutalität in Altamont weit weniger überrascht als viele Andere, doch in der Folge finden beide einen neuen Ton, eine Sprache des Verunsicherten der nicht mehr an die Funktionalität der gewohnten Realität glaubt. Der Kunsthistoriker Gustav René Hocke sah in seinem Buch "Die Welt als Labyrinth" eine derartige Situation erstmals circa 1520, interessanterweise dadurch gekennzeichnet, daß das Wort "Modern" Bedeutung erlangt. Darin liegt ein Sich-Abwenden von der in scheinbarer Sicherheit und Klarheit verwurzelten Renaissance. Er beschreibt die Sprache des Manierismus als "bewusst Anti-Klassische Ausdrucksformen". Mit Klassik kontrastiert, verdeutlicht er den Manierismus: "Die Klassik will das "Verborgene" des Mysteriums in der "Verständlichen" nur "sublimierten" Natur zur Darstellung, der Manierismus will das "Verborgene" in einer "emblematischen", in der "Idee" meist "deformierten" Natur zur Wirkung bringen", so Hocke im genannten Werk. - Das Objekt des Manierismus ist der Spiegel. Parmagianino malte seine Antlitz in einem gewölbten Spiegel, verschobene Formen, kennzeichnen das Werk. Der Zweifel an der Gültigkeit der Sichtweise, an der Unveränderlichkeit der Proportionen und eine Konzentration auf vormals unwichtige Details werden zentral, zudem beginnt der Siegeszug des Subjekts, das Ich spiegelt sich oder es spiegelt die Welt in sich. Da wären wir beim Rezensenten.
1971 begann Lester Bangs Winners Klassizismus auf den Kopf zu stellen und erkannte sich selbst im Feedback einer Freiheit, welche die Freude am Geräusch des Teenie Rocks mit den Velvets und dem Free Jazz Ornette Colemans verband, verwirklicht im Werk der Stooges. Dabei beschrieb er den Blick eines Individuums, eines unzufriedenen und zugleich zutiefst erfüllten Suchenden Menschen. Diese individualisierte Perspektive, Jahre später ein einem Text über Van Morrisons Astral Weeks zu einer bewegenden Innenwelt-Reise verdichtet, war Bangs große Neuerung. Sein "Ich" stand nicht als Ausrede für fehlendes Wissen, sondern als starke und zugleich hochverletzliche Position. Er war allein und Iggys gewundene Ballerina-Aggression sprach zu ihm.
Greil Marcus glaubte nicht an eine Klarheit, die sich aus der Beschäftigung mit historischen Fakten einstellen könnte, er glaubte an den Mythos und seine Spuren in einer Nation von (Tag-)Träumen. In seinem Buch "Mystery Train" setzt er Schlaglichter, welche den Mythos kurz erhellen und Momente preisgeben die er durchaus als kollektive Erfahrungen beschreibt. Eine Ausführliche, jedem Detail eine Bedeutung zuweisende Beschreibung des ellenlangen Intros von "Papa was a Rolling Stone" der Temptations führt er fort: "Ich kannte mehrere Leute, die am Straßenrand hielten und zitternd und abwartend dasaßen, während der Song aus den Lautsprechern kroch und die Nacht erfüllte." - Pathetischer Manierismus: Die Begegnung mit dem Song der Temptations wird zum Blick in ein Mikroskop für Empfindungen. Wenige Sekunden eines Songs blühen in seiner Beobachtung auf, als eine komplette soziale Sachverhalte beschreibende Kunst. Er war ja klug genug, die Bilder Amerikas in der Rockmusik als Mythen zu begreifen (auch eine Abkehr von Langdon Winner). Der Blick auf die "Basement Tapes", jene verstörenden Privat-Aufnahmen, die Bob Dylan und The Band 1967 entgegen aller Klänge der Zeit einspielten und die in Auszügen erst 1975 veröffentlicht wurden. "Ihre Musik war auf eine Weise gestaltet, die einen Weg zurück ins innere Amerika wies, und es funktionierte", schreibt er über die Band und zeigt, wie ein vermeintlich klassischer Ansatz, der sich auf Traditionen beruft, in eine Subjektivität führt.
Zu diesen Positionen addieren sich die von Außenseitern, etwa jene J.R. Youngs. Wie Arcimboldo Menschen als Assemblage aus Früchten und Ernteerzeugnissen portraitierte, so schrieb Young, statt Rezensionen in den bekannten formalen Techniken, Geschichten. Gut möglich, daß diese Form nicht auf ihn zurückgeht, aber er perfektioniert den Stil im Rolling Stone ab 1969. Eine ellenlange Rezension von Crosby, Stills, Nash & Youngs "Deja vu" entpuppt sich als ein Gespräch zweier hipper Bay Area Plattenverkäufer über Musik, Drogen, Kalkulation und das Ende des Hippie-Traums. Ein wütender Leserbrief fragt, wieso dieser Mist neben Langdon Winners (!) legitimer Rezension abgedruckt wurde. Der Rockhörer ist erstmal kein Freund des Manierismus, er wünscht oftmals Produktinformation und klare Wertungen.
In Deutschland bekommen Hans Keller und Ingeborg Schober entsprechende Watschen ab. Sie schreiben in der Sounds (die sich auch erst durchringen musste, neben Jazz auch Rock zu behandeln, dann aber zum wichtigsten Musik-Magazin der 70er wurde) über Glam-Rock und finden ihn gut, wie auch der schillernd selbstverliebt schreibende Yves Adrien in Paris. Dandyismus fußt auf manieristischem Zweifel und Subjektlust, sein Pop-Schauplatz war Glam und bald Punk. Da steht dann Keller als Titelheld (!) in Lederjacke auf der ersten Punk thematisierenden Sounds und zieht ein Gesicht *. Nach New York führt ihn bald die Szene um Lydia Lunch, doch dann entdeckt er dort den ganz frühen Rap, zurück in Europa fasziniert ihn Italo-Disco, es kommt zu einem legendären Spex Artikel. In einem weiteren zelebriert er sich selbst - zurecht, hatte er doch etwas zu sagen über Wandlung und wache Wahrnehmung.
Das "Ich" wurde ab Punk die zentrale Figur der Pop-Rezension. In England schreibt Paul Morley für den NME und seine an französischer Theorie, Nouvelle Vague Kino und deutschen Autorenfilm geschulte Sichtweise führt zu einer nomadischen Sprache, er schaut vorbei, findet, betrachtet feine, scharfe Kanten bei Joy Division oder Ludus und fordert bald Pop, als geschwätzige Basis für große Gesten. Den stilistischen Experimenten des frühen Morley entsprechen Harald in Hülsens Rezensionen im Musik Express voller "///" als handele es sich dabei um postmoderne Rimbaud Übersetzungen. Den Pop Morleys übertrumpft hierzulande Andreas Banaski alias Kid P. - Er beherrscht Julie Burchills Polemik und seine Subjektivität bedeutet Einblick in das Privatleben des Kid P. - eine in Wikipedia auf ihn verfasste Hymne berichtet auch von den Folgen seiner Perspektive für die kommende Popliteratur. Die übernimmt seinen Stil des bösen, indiskreten Kommentars, der Ich-Erzählung und des Glaubens an die Größe von Pop und übersieht etwas, was einem wiederum Hocke erklären kann: "Die Gefahr der Klassik ist die Erstarrung, diejenige des Manierismus die Auflösung" und weiter: "Manierismus ohne Klassik als Wiederstand wird Manieriertheit." - Tatsächlich kannte Kid P. (wie auch alle anderen hier erwähnten) ihr Sujet, sie verfügten über eine durchaus "klassische" Popbildung (Banaski schrieb später im Sinne einer Klassik, die ihr Scheitern am HipHop mit Goethe argumentiert) und waren in der Lage den Spiegel in beide Richtungen zu benutzen. Klare und deutliche Urteile verliefen nicht in subjektive Geschmäcklerei oder reines Fantum, denn jene noch so eindeutige Aussage bezog sich auf ein zweifelndes, anti-authentizistisches Denken.
Das fehlt heute dem Intro-Ich und der Irgendwie-Rezension. Wenn es schon einen Standpunkt gibt, so wird er als Sicher geglaubt und da der Einsatz so lächerlich gering ist, muss sich kein Zweifel erheben. Ein Spiel um nichts.
Der Niederländer Roel Bentz van den Berg verkörpert einen Greil Marcus geschulten pathetischen Individualismus., Sein Luxus waren Texte über einen einzigen Song seiner Wahl, die er für das NRC-Handelsblad schreiben durfte und die ähnlich der Seitenlangen frühen Rolling Stone Rezensionen, dort Raum für Detailansichten boten. Sein verdichtender Blick (der mir beispielsweise Neil Youngs "Cortez the Killer" erklärte) deutet auf ein weiteres Detail: die Aufmerksamkeit oder einfach Fähigkeit, kleine Dinge wahrzunehmen und Worte dafür zu finden. Damit könnte auch eine individualisierte Rezension einen Gewinn bringen, nur schreibt die sich nicht mal eben so runter.
Oliver Tepel
[Erschienen in Spex Nr. 300 - September 2006]
* Später stellt Hans Keller in einem Leserbrief klar, daß nicht er sondern der Sänger der Punk und Comedy Rockband Alberto y Lost Trios Paranoias der Titelheld besagter Sounds Ausgabe war.
Manierismus in der Rockkriti

Überlange schlanke Finger schreiben gezirkelte Worte auf billiges Papier, sie umfassen den Füllfederhalter als wären ihre Knochen aus Gummi.
Alles Quatsch! - Denn als Zweifel und Perspektivverschiebungen die Rock-Kritik erfassten, saßen axelschweissige Bartträger an klappernden Schreibmaschinen.
Eine Rock Kritik, die ihre Funktion nicht darauf beschränken wollte, Sprüche eines Radio DJ's über die "neueste heisse Scheibe von" auf Papier zu bannen, hatte Literatur- wie vor allem Jazzkritik als Leitfaden. Was der US-Amerikanische Rolling Stone und bald darauf Creem dann an Stilen, Betrachtungsweisen und Positionen anbot, beschrieb den Kosmos einigermaßen flinker Ex-Studenten (was sich bis heute nicht großartig geändert hat) die überhaupt erst dank der Beatles und Bob Dylan auf die Idee kamen, daß sich eine detaillierte und ihr Sujet ernst nehmende Auseinandersetzung mit Rock Musik lohnte. Was dann möglich wurde, muß für eine kurze Zeit so geil und pubertär gewesen sein, da musste jeder gelungene Satz ein freches Grinsen beinhalten, schrieb man doch noch gegen eine Öffentlichkeit, denn die populäre Musik entsprach nicht dem kulturjournalistischen Jargon. Es war noch ein weiter Weg bis ins Feuilleton.
Die frühe avancierte Rockkritik wähnte sich inmitten eines goldenen Zeitalters. Was wartete hinter der nächsten Ecke, neue tolle Nachrichten von Dylan an die Welt, der Aufbruch nach der Psychedelischen Phase? - Doch es wartete der Tod. Das Altamont Rockfestival hinterließ eine Blutspur und öffnete den Blick in die Schattenwelt der neuen Errungenschaften. Als Langdon Winner in seinem Essay "the strange death of Rock'n'Roll" den Impuls der Beatles für eine neue US-Amerikanische Rockmusik pries und von einer Musik träumte, die alle Töne und Bilder seines Landes mit einschließen könnte, sickerte das Bild des Authentischen und der abbildenden Funktion in die Rock-Rezeption. Ideen aus Sturm und Drang, Klassik und Romantik tanzten so leidenschaftlich wie unbeholfen durcheinander, als müsste das Schreiben stets formales Zeugnis des Hippie Human-Be-Ins ablegen. Doch für das gab es im Jahr 1967 nur verzücktes Gestammel.
Greil Marcus und Lester Bangs waren wahrscheinlich von der Brutalität in Altamont weit weniger überrascht als viele Andere, doch in der Folge finden beide einen neuen Ton, eine Sprache des Verunsicherten der nicht mehr an die Funktionalität der gewohnten Realität glaubt. Der Kunsthistoriker Gustav René Hocke sah in seinem Buch "Die Welt als Labyrinth" eine derartige Situation erstmals circa 1520, interessanterweise dadurch gekennzeichnet, daß das Wort "Modern" Bedeutung erlangt. Darin liegt ein Sich-Abwenden von der in scheinbarer Sicherheit und Klarheit verwurzelten Renaissance. Er beschreibt die Sprache des Manierismus als "bewusst Anti-Klassische Ausdrucksformen". Mit Klassik kontrastiert, verdeutlicht er den Manierismus: "Die Klassik will das "Verborgene" des Mysteriums in der "Verständlichen" nur "sublimierten" Natur zur Darstellung, der Manierismus will das "Verborgene" in einer "emblematischen", in der "Idee" meist "deformierten" Natur zur Wirkung bringen", so Hocke im genannten Werk. - Das Objekt des Manierismus ist der Spiegel. Parmagianino malte seine Antlitz in einem gewölbten Spiegel, verschobene Formen, kennzeichnen das Werk. Der Zweifel an der Gültigkeit der Sichtweise, an der Unveränderlichkeit der Proportionen und eine Konzentration auf vormals unwichtige Details werden zentral, zudem beginnt der Siegeszug des Subjekts, das Ich spiegelt sich oder es spiegelt die Welt in sich. Da wären wir beim Rezensenten.
1971 begann Lester Bangs Winners Klassizismus auf den Kopf zu stellen und erkannte sich selbst im Feedback einer Freiheit, welche die Freude am Geräusch des Teenie Rocks mit den Velvets und dem Free Jazz Ornette Colemans verband, verwirklicht im Werk der Stooges. Dabei beschrieb er den Blick eines Individuums, eines unzufriedenen und zugleich zutiefst erfüllten Suchenden Menschen. Diese individualisierte Perspektive, Jahre später ein einem Text über Van Morrisons Astral Weeks zu einer bewegenden Innenwelt-Reise verdichtet, war Bangs große Neuerung. Sein "Ich" stand nicht als Ausrede für fehlendes Wissen, sondern als starke und zugleich hochverletzliche Position. Er war allein und Iggys gewundene Ballerina-Aggression sprach zu ihm.
Greil Marcus glaubte nicht an eine Klarheit, die sich aus der Beschäftigung mit historischen Fakten einstellen könnte, er glaubte an den Mythos und seine Spuren in einer Nation von (Tag-)Träumen. In seinem Buch "Mystery Train" setzt er Schlaglichter, welche den Mythos kurz erhellen und Momente preisgeben die er durchaus als kollektive Erfahrungen beschreibt. Eine Ausführliche, jedem Detail eine Bedeutung zuweisende Beschreibung des ellenlangen Intros von "Papa was a Rolling Stone" der Temptations führt er fort: "Ich kannte mehrere Leute, die am Straßenrand hielten und zitternd und abwartend dasaßen, während der Song aus den Lautsprechern kroch und die Nacht erfüllte." - Pathetischer Manierismus: Die Begegnung mit dem Song der Temptations wird zum Blick in ein Mikroskop für Empfindungen. Wenige Sekunden eines Songs blühen in seiner Beobachtung auf, als eine komplette soziale Sachverhalte beschreibende Kunst. Er war ja klug genug, die Bilder Amerikas in der Rockmusik als Mythen zu begreifen (auch eine Abkehr von Langdon Winner). Der Blick auf die "Basement Tapes", jene verstörenden Privat-Aufnahmen, die Bob Dylan und The Band 1967 entgegen aller Klänge der Zeit einspielten und die in Auszügen erst 1975 veröffentlicht wurden. "Ihre Musik war auf eine Weise gestaltet, die einen Weg zurück ins innere Amerika wies, und es funktionierte", schreibt er über die Band und zeigt, wie ein vermeintlich klassischer Ansatz, der sich auf Traditionen beruft, in eine Subjektivität führt.
Zu diesen Positionen addieren sich die von Außenseitern, etwa jene J.R. Youngs. Wie Arcimboldo Menschen als Assemblage aus Früchten und Ernteerzeugnissen portraitierte, so schrieb Young, statt Rezensionen in den bekannten formalen Techniken, Geschichten. Gut möglich, daß diese Form nicht auf ihn zurückgeht, aber er perfektioniert den Stil im Rolling Stone ab 1969. Eine ellenlange Rezension von Crosby, Stills, Nash & Youngs "Deja vu" entpuppt sich als ein Gespräch zweier hipper Bay Area Plattenverkäufer über Musik, Drogen, Kalkulation und das Ende des Hippie-Traums. Ein wütender Leserbrief fragt, wieso dieser Mist neben Langdon Winners (!) legitimer Rezension abgedruckt wurde. Der Rockhörer ist erstmal kein Freund des Manierismus, er wünscht oftmals Produktinformation und klare Wertungen.
In Deutschland bekommen Hans Keller und Ingeborg Schober entsprechende Watschen ab. Sie schreiben in der Sounds (die sich auch erst durchringen musste, neben Jazz auch Rock zu behandeln, dann aber zum wichtigsten Musik-Magazin der 70er wurde) über Glam-Rock und finden ihn gut, wie auch der schillernd selbstverliebt schreibende Yves Adrien in Paris. Dandyismus fußt auf manieristischem Zweifel und Subjektlust, sein Pop-Schauplatz war Glam und bald Punk. Da steht dann Keller als Titelheld (!) in Lederjacke auf der ersten Punk thematisierenden Sounds und zieht ein Gesicht *. Nach New York führt ihn bald die Szene um Lydia Lunch, doch dann entdeckt er dort den ganz frühen Rap, zurück in Europa fasziniert ihn Italo-Disco, es kommt zu einem legendären Spex Artikel. In einem weiteren zelebriert er sich selbst - zurecht, hatte er doch etwas zu sagen über Wandlung und wache Wahrnehmung.
Das "Ich" wurde ab Punk die zentrale Figur der Pop-Rezension. In England schreibt Paul Morley für den NME und seine an französischer Theorie, Nouvelle Vague Kino und deutschen Autorenfilm geschulte Sichtweise führt zu einer nomadischen Sprache, er schaut vorbei, findet, betrachtet feine, scharfe Kanten bei Joy Division oder Ludus und fordert bald Pop, als geschwätzige Basis für große Gesten. Den stilistischen Experimenten des frühen Morley entsprechen Harald in Hülsens Rezensionen im Musik Express voller "///" als handele es sich dabei um postmoderne Rimbaud Übersetzungen. Den Pop Morleys übertrumpft hierzulande Andreas Banaski alias Kid P. - Er beherrscht Julie Burchills Polemik und seine Subjektivität bedeutet Einblick in das Privatleben des Kid P. - eine in Wikipedia auf ihn verfasste Hymne berichtet auch von den Folgen seiner Perspektive für die kommende Popliteratur. Die übernimmt seinen Stil des bösen, indiskreten Kommentars, der Ich-Erzählung und des Glaubens an die Größe von Pop und übersieht etwas, was einem wiederum Hocke erklären kann: "Die Gefahr der Klassik ist die Erstarrung, diejenige des Manierismus die Auflösung" und weiter: "Manierismus ohne Klassik als Wiederstand wird Manieriertheit." - Tatsächlich kannte Kid P. (wie auch alle anderen hier erwähnten) ihr Sujet, sie verfügten über eine durchaus "klassische" Popbildung (Banaski schrieb später im Sinne einer Klassik, die ihr Scheitern am HipHop mit Goethe argumentiert) und waren in der Lage den Spiegel in beide Richtungen zu benutzen. Klare und deutliche Urteile verliefen nicht in subjektive Geschmäcklerei oder reines Fantum, denn jene noch so eindeutige Aussage bezog sich auf ein zweifelndes, anti-authentizistisches Denken.
Das fehlt heute dem Intro-Ich und der Irgendwie-Rezension. Wenn es schon einen Standpunkt gibt, so wird er als Sicher geglaubt und da der Einsatz so lächerlich gering ist, muss sich kein Zweifel erheben. Ein Spiel um nichts.
Der Niederländer Roel Bentz van den Berg verkörpert einen Greil Marcus geschulten pathetischen Individualismus., Sein Luxus waren Texte über einen einzigen Song seiner Wahl, die er für das NRC-Handelsblad schreiben durfte und die ähnlich der Seitenlangen frühen Rolling Stone Rezensionen, dort Raum für Detailansichten boten. Sein verdichtender Blick (der mir beispielsweise Neil Youngs "Cortez the Killer" erklärte) deutet auf ein weiteres Detail: die Aufmerksamkeit oder einfach Fähigkeit, kleine Dinge wahrzunehmen und Worte dafür zu finden. Damit könnte auch eine individualisierte Rezension einen Gewinn bringen, nur schreibt die sich nicht mal eben so runter.
Oliver Tepel
[Erschienen in Spex Nr. 300 - September 2006]
* Später stellt Hans Keller in einem Leserbrief klar, daß nicht er sondern der Sänger der Punk und Comedy Rockband Alberto y Lost Trios Paranoias der Titelheld besagter Sounds Ausgabe war.
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