Sonntag, 3. März 2013

Vor fast 15 Jahren (Spex 216 revisited)

Vor einigen Wochen fragte ein Facebook Freund nach Glam Rock in Deutschland. Gab es da was? - Schweigen. Tatsächlich war Glam eines der vielen importierten Pop-Phänomene. Aus einer Pressevorführung von Todd Haynes "Velvet Goldmine" erwuchs 1998 die Idee eines Spex Specials. Ich erinnere mich an die Begeisterung, die ich vor allem mit Kurt Kreikenbom teilte. Ein kleiner gemeinsamer Text mit Dechiffrierungshinweisen zu Haynes System der Anspielungen, sowie ein leider nicht mal grandios verklungener Glam Abend im Blue Shell waren Früchte jener Begeisterung. Was mich selbst darüberhinaus dazu brachte, die Frage nach Glam in Deutschland zu stellen, weiß ich nicht mehr genau, aber er führte zu einem der sinnvolleren Vorhaben meines popjournalistischen Tuns: Einige Telefonate, Treffen, Recherchearbeit eben, um eine kleine, kaum wirklich greifbare Geschichte aufzuschreiben. Ich habe über die Jahre öfters an den Text gedacht, nicht zuletzt wegen der Begegnung mit Klaus Dinger. Heute erscheint mir der Text zum Teil als eine vertane Chance. Es auf die Begrenzung der Zeichenzahl zu schieben, wäre nicht ganz richtig. Vielleicht war es der Versuch, meinen persönlichen Hippie Flirt der vorhergehenden 12 Jahre abzuschütteln oder nur ein didaktischer Trick um Grenzen aufzuzeigen, doch es stören mich heute Begriffe und Wertungen. Andererseits bleibt der Text eben ein kleiner Einblick in eine Zeit, welche zu wutschnaubenden Leserbriefen in der SOUNDS führte und die einen Wandel ankündigte, dessen Revival in den 90ern dann doch etwas trist ausfiel. Gerade posiert auf dem H&M Poster ein Mädchen mit Tammy Wynette Frisur, trashigem Nietenjackett und E-Gitarre. Es geht wieder los. Also, vielleicht als Anlass zu weiterer Recherche oder einfach nur so:

A GERMAN GLITZER-GESCHICHTE

ALLES HALBSTARKE

Vor einigen Wochen sah ich im Fernsehen Ausschnitte aus einer Wochenschau von 1958. Elvis, der suspekte amerikanische Jugendverführer, musste gerade seinen Gl-Dienst in Deutschland ableisten und wurde offensichtlich direkt nach seiner Ankunft zu einem Rock 'n'Roll- Nachwuchswettbewerb geschleppt. Der zynische Kommentar des Sprechers mündet in eine an Elvis gerichtete Weisheit: »Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus.«

Was mich an den Bildern dieses Wettbewerbs faszinierte, war nicht, daß es eine musikalische Reaktion auf Rock 'n'Roll in Deutschland gab, sondern, wie dieser wilde Lärm, der nur noch vom radebrechenden Englisch des jeweiligen Sängers übertönt wurde, explodierte, und dabei in keiner Relation selbst zu den gelungensten Aufnahmen heimischer Rock'n'Roller wie Ted Herold oder Jeff Jackson [Paul Würges] stand. Der Lärm fand seine Entsprechung eher in den Ausschreitungen, die zwischen '56 und '58 regelmäßig im Anschluß an Rock'n'Roll- Filmvorführungen in diversen Großstädten stattfanden. Diese betont männliche Kultur der »Halbstarken« stellte keinen politischen Anspruch, der dem existentialistischer Studentencafés vergleichbar gewesen wäre, sie forderte nur: »Wir wollen Rock'n'Roll!«

Während die späteren Glam-Protagonisten sich noch in einer Lebensphase irgendwo zwischen Kinderwagen und Grundschule befanden, verloren fast zeitgleich mit der legendären ersten Rock'n'Roll-Krise die Befreiungsversuche der »Halbstarken« aus dem Nachkriegsmief an Bedeutung. Einzelne begründeten noch die Motorrad-und-Lederkombi-Rockerkultur, die meisten aber wurden einfach erwachsen und verschwanden spurlos in der Arbeitswelt des Wirtschaftswunders.

KEINE MODS, LAUTER HIPPIES

Da Merseybeat und British Invasion gegen Mitte der Sechziger hierzulande keine nennenswerte Mod-Bewegung hervorbrachten, hieß die nächste relevante Jugend beziehungsweise Protestkultur Hippie. Was da in der zweiten Hälfte der Sechziger als freudig-rebellische Selbsterfahrungs-Partykultur startete, versackte später entweder in politischem Dogmatismus oder gruppentherapeutischem Diskussionszwang, Inhaltismus oder Esoterik. Im Zeichen der Woodstock-Schlammschlacht erschien Stil als obsolet, und all die grausigen Hippie-Klischees begannen sich durchzusetzen, die später in der Friedensbewegung oder in den Pädagogischen Fakultäten ihren endgültigen Tiefpunkt fanden. Derweil etablierten sich Hippies recht schnell auch als Radioredakteure und schufen mit SOUNDS die erste deutsche Zeitung für populäre Musik, die sich nicht an ein Teenie-Publikum wandte. Für die Musikbewertung galt fortan die Formel: kommerziell = anspruchslos. Diesen Bruch mit den Teeniewerten begrenzt auch heute noch (beziehungsweise wieder) das Urteil vieler, egal ob Indie-Klientel oder Elektro-Avantgarde-Fan.

Zu Beginn der Siebziger hießen die Wahlmöglichkeiten für den jungen Hippie, der von den coolen Älteren, die zwei Jahrgangstufen über ihm waren und auf dem Schulhof das Sagen hatten, beachtet und akzeptiert werden wollte: Progressive oder ein Mix aus Westcoast- und Southern-Rock. Natürlich ging auch beides durcheinander, aber wichtig war: Hier spielten versierte, sprich: ernsthafte Musiker Stücke, die schon allein durch ihre Länge völlig unkommerziell waren. Ich bin mir nicht sicher, ob den Schulhofkönigen jemals in den Sinn kam, irgendwer könnte sich über so ein tiefempfunden stimmiges Weltbild hinwegsetzen.

Als 1972 der geschminkte Alice Cooper mit seiner Horror-Hardrockshow auch den ein oder anderen seriösen SOUNDS-Mitarbeiter zu begeistern vermochte, war das noch kein wirkliches Indiz für einen Paradigmenwechsel, denn in den einschlägigen Artikeln wurde vor allem Coopers Showmanship belobigt. Immerhin verärgerte man so Yes- und Gentle Giant-Fans. Aber niemand dachte daran, denen auch noch das neueste Ding aus England vorzusetzen und so mussten andere, zunächst sehr wenige, kommen, die David Bowie und Roxy Music den Weg in deutsche Städte bereiteten

Daß Glam hier überhaupt stattfand, ist von mehr als nur anekdotischem Interesse. In der Zusammenschau mit »Velvet Goldmine« geht einem auf, wieso: da sieht man den künftigen Glitzer-Rock-Star als den coolsten Mod des Schulhofs. Auch die ersten britischen Hippies rekrutierten sich aus Mod-Kreisen: Die Idee, aus einem Stil ganze Identitäten zu konstruieren, war also tief verwurzelt im Bewußtsein einer ganzen Generation. Diese Mod- Szene fehlte nun aber, wie gesagt, hierzulande fast völlig, eine entsprechende Genealogie ist also nicht übertragbar. Die Leute, die hier circa 1972 mit Glam in Verbindung kamen, hatten möglicherweise Velvet Underground, Captain Beefheart oder Alice Cooper gehört; vielleicht störte sie auch nur der allgemeine Hippie-Konsens.

ROCKY HORROR HAMBURG SHOW

Den älteren Hippie-Bruder ärgern zu können, war ein willkommener Nebeneffekt für einen der drei Hamburger Gymnasiasten, die unter den ersten waren, denen die von David Bowie und Roxy Music eröffneten Möglichkeiten aufgingen. Der leider zu früh verstorbene Stefan Ohrt hatte Bowie schon vor dem "Ziggy Stardust"-Durchbruch für sich entdeckt und bildete zusammen mit Nicola Reidenbach und Sven Kirsten eine dieser seltsamen Zufallsgemeinschaften von Menschen, die im rechten Moment zueinanderfinden. Glam funktionierte in Hamburg auch dank der Nähe zu London: Platten, Informationen und Kleidung wurden von der Kings Road nach HH geschleppt. Andere Accessoires konnte man in einem Rockerladen, der bereits seit den Sechzigern auf dem Kiez existierte, besorgen. Lustiger- und gar nicht mal unpassender weise sahen die Rocker in den androgyn gestylten Menschen Geistesverwandte, mit denen man eine Abneigung gegen Kifferhippies teilte. Mit ihrer Idee von Rockerästhetik zielte die ganz junge Suzi Quatro genau auf diese Schnittmenge.

Ein weiterer Faktor sprach für Hamburg als Schauplatz: Die Reeperbahn garantierte für einen Sexmarkt, dessen Möglichkeiten scheinbar weniger im Widerspruch mit der in Glam angelegten Auflösung von Gender-Identitäten stand, als die durchschnittliche Hippiemoral. Dabei berührten sich Glam und das Reeperbahnambiente nur in einem historischen Moment: dem einzigen Livegig der New York Dolls in der BRD. Neben einem Fernsehauftritt im Musikladem (man erinnere sich an Manfred Sexauer und die Nummerngirls) spielten sie im Salambo, dem einstigen Star-Club,der nun für harte Hetero- sowie Schwulen-Sexshows stand. Auf dem Backcover der zweiten New-York-Dolls-LP sieht man die Band just vor diesem Laden posen. Abseits der Reeperbahn existierte ein Club namens Fucktory, in dem auch Glam-Rock aufgelegt wurde und der ansonsten seinem Namen alle Ehre machte. Was auch immer dort wirklich stattfand, öffentlicher Sex oder gar schwarze Messen, wie es die Lokalpresse unterstellte, es reichte jedenfalls für die Polizei aus, den Club eines Tages ein für allemal dichtzumachen.

Was in »Velvet Goldmine« der Figur des Journalisten in seinen Teenagertagen bei der Selbstfindung half,forderte für andere erstmal nur den Mut zur Pose: Junge Männer bemühten sich plötzlich um ein Bi-Image, das - wenn schon nicht zur Befreiung des Selbst - doch zum Bruch mit dem tendenziös machoistischen Hippiegehabe und zum Spießerärgern in der Straßenbahn taugte. Es mögen in ganz Hamburg ungefähr zehn Leute gewesen sein, die schnell genug reagiert hatten und nun den Spaß haben konnten, auf Parties von Hippies aus bildungsbürgerlichem Elternhaus solange die allgemeinen Gespräche zu boykottieren, bis sie als Faschisten beschimpft wurden. So hatte man auch gleich den Vorwand, den Hausrat ein wenig zu demolieren. Hier kehrte das Halbstarkenethos als Alternative zum Ausdiskutierzwang zurück. Neben dem zur gleichen Zeit stattfindenden ersten Rock' n'Roll- Revival setzte man so Zeichen für das, was mit Punk und danach kommen sollte: Das zu Negierende fand sich nicht in erster Linie bei der Generation der Eltern, sondern mindestens im gleichen Maße auch in der Kultur der älteren Geschwister. Die Argumentation wurde dabei sowohl unnachgiebiger wie strategischer.


Daß die Hippies bei der Hamburger SOUNDS-Redaktion auch nichts kapierten, half fürs erste, den immer wichtiger werdenden hippen Vorsprung zu halten. Was sich gleichzeitig in den Charts anbahnte, interessierte dabei nur wenig. Es leuchtet in mancher Hinsicht völlig ein, aber die Ablehnung aller aufkommenden Teenieversionen von Glam (mit Ausnahme von T. Rex) wiederholte leider auch das Anspruch-versus-Trash-Klischee der SOUNDS. Nicola Reidenbach und Sven Kirsten stutzen beide schon bei der Erwähnung des Begriffes Glam-Rock: »Glam, das waren doch The Sweet oder Slade, damit hatte ich nix am Hut.« Andererseits konnte man nun auch spaßeshalber wieder Bravo lesen, denn alles was dem »großen Sinn« (für den eben Hippies standen) ein Schnippchen schlug, war nützlich.


LA DÜSSELDORF, MUNICH


Weiter südlich, in Düsseldorf, spielten Kraftwerk und Neu! schon den Soundtrack für Bowies und Enos Post- Glam-Phase. Die dortige Szene zwischen Kunsthochschule und aufkommender Werbewirtschaft war ein starkes Gegengewicht zum Hippie-Konsens, Das Schaffen von Klaus Dinger (Ex-Kraftwerk, -Neu!, -La Düsseldorf und heute La!Neu?) besitzt dabei einige Gemeinsamkeiten mit Glam. »Ziggy Stardust traf für mich recht gut den Geist der Zeit« erzählt er, um eine Ecke seines eigenen Paralleluniversums zu beschreiben. Hier wie dort wurde bewußt Pop Art interpretiert, und im Unterschied zur (rückwärtsweisenden) Entdeckung des Zitats bei Roxy Music und Bowie erschloß Dinger (vorausdeutend) neue Technologien, um sie für eine eigene Ästhetik zu verwenden. Wenige Jahre später war Düsseldorf dann Schauplatz der ersten deutschen Punkszene.


Noch weiter südlich wurde Glam emphatischer rezipiert und zelebriert als anderswo. Ingeborg Schober erzählt, daß die ersten gestylten Menschen 1972 beim Queen-Konzert in München auftauchten. Als ein Jahr darauf Roxy Music das heutige Volkstheater beehrten, glich die Szenerie keineswegs den bemitleidenswerten Bildern von einem deutschen Roxy-Publlkum im letzten Whirpool-Video. Viele waren geschminkt, hatten die langen Haare abgeschnitten und gefärbt, trugen enge, hochgekrempelte Hosen, hohe Stiefel mit oder ohne Plateausohlen und silberne Bolerojäckchen. Nicht nur für einen Ex-Amon Düül- und Embryo-Musiker wie Jörg Evers war das ein willkommener Anlass, dem Hippiekommunen-Diktat zu entkommen. München tat sich nicht schwer mit dem Wandel, stellte die Stadt doch schon seit Mitte der Sechziger ihren Anspruch als flexible Modestadt unter Beweis. Hier antworteten ansässige junge Modemacher schnell auf das neuerwachte Bedürfnis nach Style und ersetzten so die fehlende geographische Anbindung an London oder Amsterdam. Wenn das silberbejackte Glitzerpublikum dann zwei Jahre später einem Bryan Ferry im weißen Tuxedo gegenüberstand, zeigte sich dabei auch ein amüsanter Zeitverzögerungseffekt.


Immerhin: Das Tiffany, vorher zum Live-Club abgestiegen, fungierte wieder als Disco, wo nun Glam und Philly-Sound zusammenklangen. Dazu tanzte die Szene um die Filmhochschule (Cleo Kretschmer etwa war überzeugter Roxy-Music-Fan), und in irgendwelchen Ecken wurde der »Sound of Munich« vorbereitet. Noch deutlicher reagierten einige Musiker um Jörg Evers: Anfang 1974 veröffentlichten sie als 18 Karat Gold mit »All-Bumm« die erste und einzige deutsche Glam-Rock- LP (sieht man mal von einigen Glam-Spuren bei Can und Kraan ab). Zu dieser Zeit war dann auch SOUNDS bereit, diese Platte als Alternative zum Krautrockverdruß anzupreisen. Bis dahin waren der »England-Korrespondent« Duncan Fallowell und Ingeborg Schober mit ihren Vorlieben allein auf weiter Flur gewesen. Besonders Frauen meldeten sich laut Ingeborg Schober auf Ihre hart erkämpften Artikel und Radiosendungen hin. Einerseits berührte das Konzept der Androgynität vor allem die männliche Sexualität, denn außer Suzi Ouatro mangelte es an weiblichen Glam-Rock-Figuren (was im schlimmsten Fall nur alte Rollenmodelle verfestigte). Andererseits bot Marc Bolan für viele Mädchen eine faire Alternative zu Led Zeppelins Jungsmusik mit Machoposen und befreite Frauen vom Wollpulloverdiktat,
 

STARDUST

Zweifelsöhne war Glam eine Laune, mußte eine Laune sein. Dort, wo es glitzerte, wechselten die Identitäten und Moden natürlich kontinuierlich und ließen genug Platz für einen Pragmatismus, der den Hippies nicht geheuer war. So passte man sich für den Besuch bei der eigentlich doch ganz netten Hippie Tante auf dem Land auch mal entsprechend an, um Konflikten oder Stil-Fragen aus: dem Weg zu gehen Die Ökos selber zeigten sich recht resistent gegen alles, was mit Glam hierzulande seinen Anfang nahm. Weder die Popper, die den Hedonismus von Glam bald in eine neoliberale Ideologie verfrachteten, noch Punk konnten ihnen wirklich viel anhaben, Sie predigten weiterhin: »sei selbstauthentisch«, hatten aber gelernt, wie man damit Geld verdient. Glam wiederum führte nicht selten zu Medien- oder Werbe-Karrieren.


Das Spiel mit Identitäten schillerte noch mal Anfang der Achtziger (siehe auch Ingeborg Schobers Beitrag im Sammelband »But I like it«, Reclam Junior), und diesmal war auch SOUNDS auf der Höhe der Zeit (sowie auf dem Weg in den Konkurs). Wie sich Ironisierung und Zitat als Strategie selbst abschafften und dann doch wieder auftauchten, wussten diese Seiten regelmäßig zu berichten, und vergaßen darüber irgendwann, wie der Soundtrack für die besseren jugendlichen Seifenopern klingen könnte.


Oliver Tepel


Danke für Informationen und Unterstützung an Ingeborg Schober, Nicola Reidenbach, Sven Kirsten, Jörg Evers, Klaus Dinger, Diedrich Diederichsen, Manfred von Papen, Petra Fuchs & Stefan Wood sowie Horst Knies.


[Erschienen in: SPEX 216 - November 1998]

Sonntag, 27. Januar 2013

Musikliste 2012 - Der späte Vogel singt die süssesten Lieder?

Und plötzlich war es soweit. Ich hätte es wohl 2008 ahnen sollen, vielleicht auch beobachten können, aber mir wurde nicht klar, was aus diesen, vielfach ironisch gebrochnenen, Spielereien mit 80er Stilistiken wachsen konnte. Daß hier wirklich eine neue Soundästhetik geschaffen wurde und in ihr dann sogar der Versuch, an den Begrenzungen des Ironischen vorbeizukommen. 1993 habe ich keine Jahrescharts notiert. Das Jahr erschien mir als eine Enttäuschung. Heute sehe ich in ihm die letzte größere Ansammlung von Alben, die mich wirklich begeisterten (Freestyle Fellowship, Caetano & Gil, Phish, Randy Travis, Plastikman). Aber eine Passivität, ein Suchen in Nischen zeichnet sich ab, welches dann alle Listen, die bald von mir anfragt und abgedruckt wurden, prägte. Nie hatte ich Probleme mit der Höchstzahl möglicher Nennungen. 2012 hatte ich sie. Kann sein, in Folge einer gewissen Euphorie. Ob mich "Commotus" in 19 Jahren noch so begeistert wie "Innercity griots", wird die Zeit zeigen. Am Ende erzählen solche Listen ja etwas über den Menschen, der sie erstellt, sein Denken und Leben und vielleicht auch etwas über die Zeit.

LP's

 













1. Lucrecia Dalt ‎– Commotus  (Human Ear Music)
Eine Western Gitarre träumt sich durch eine Wüstenlandschaft um der Perkussionsfigur eines verschleppten Boleros zu weichen. Dazu singt die verhallte Stimme von Vorsicht und Wagnis. Dann hält die Musik komplett inne, bis uns eine vorbeifliegende Fledermaus aufschreckt. Wir hören ihren Ultraschall-Ruf.
2. Boy Friend ‎– Egyptian Wrinkle  (Hell, Yes! Records)
Tragische Romantik. Hinter schwarzen Organza Vorhängen tuscheln Spitzenklöpplerinnen über die Leiden der Schönheit. Davon, daß es doch schmerzt, wenn der Falsche geht und davon, wie süß es sein könnte - aber da sehen wir, wie die Nadel den Finger sticht und verlieren uns. (Noch besser als Sleep∞Over)
3. Nite Jewel ‎– One Second of Love  (Secretly Canadian)
Ihre Sprache ist nun eine elektronische Version des sophisticateten Blue Eyed Souls der 80er: Isabelle Antena, Everything but the Girl oder Baisa klingen an. Der Gesang sucht keine großen Effekte, subtile Melancholie schimmert selbst aus den leichtfüssigsten Hooklines. Einst zeigte diese Musik dem New Wave Klischee die lange Nase.
4. Tops ‎– Tender Opposites  (Arbutus Records)
Versuch, sich mit diesen Stimmen, die nach falscher Drehzahl klingen, anzufreunden. Hier verfügt sie über genug Ausdruck, mit ihr zu wollen, dorthin, wo der ideenreiche Gitarren Pop seine melancholisch süßen Figuren zeichnet.
5. Andy Stott ‎– Luxury Problems  (Modern Love)
Deutlich mehr Struktur klingt auch nach deutlich mehr Arbeit. Deutlich mehr Struktur klingt auch nach deutlich mehr "Kopf ab!". Deutlich mehr Struktur klingt auch nach deutlich mehr Album. Deutlich mehr Struktur klingt auch nach Industrial R&B.
6. Paco Sala ‎– Ro-Me-Ro  (Digitalis Recordings)
Auf dieser Ebene der Verführung könnten die Gesten Schwindsucht meinen, wenn damit dann das 19. Jahrhundert in den HipHop einkehrt um einem Picknick im Freien beizuwohnen bei dem keinem der Beteiligten große Sprüche einfallen müssen.
7. The National Jazz Trio Of Scotland's Christmas Album  (Karaoke Kalk)
Völlig unmittelbar rührt der zarte Ernst dieser Interpretationen, selbst Stilmittel wie gesampeltes Hundebellen passen sich ein. Wie einem diese Lieder noch einmal gerettet werden macht sprachlos.
8. Alice Cohen ‎– Pink Keys  (Olde English Spelling Bee)
Hier nun die Lebenserfahrung vieler begangener Seitenstraßen in einer gänzlich neuen Idee dessen, was denn "Singer-Songwriter R&B Pop" sein könnte.
9. Holly Herndon ‎– Movement  (Rvng Intl.)
Die Künsterlin, die so schön atmet. Was wohl Anne Gillis dazu sagt?
10. Julia Holter ‎– Ekstasis  (Rvng Intl.)
Überlagernde Melodiefragmente, ähnlich denen der Minimal-Music, vollführen kleine Dramen in antiker Klarheit. Wohl wissend, daß das so erhabene Weiss antiker griechischer Skulpturen einst von bunten Farben bedeckt war, appliziert sie Schicht um Schicht auf ein avantgardistisch anmutendes Projekt und erhält so eine sehr persönliche Songwritermusik.
11. Dwight Yoakam ‎– 3 Pears  (Warner)
Welch Wunder, da wartet er nach sieben Jahren mit einem so frischen, wie Ideenreichen Werk auf. Potentielle Hits, nur wohl mit zu wenig quietschender Stadionrockgitarre um jugendliche Country Fans zu begeistern. Dafür aber voller Akzente (Bläserarrangements!), sensibler Kniffe (Beach Boys Harmonien!) und ausgefeiltem Songwriting.
12. Hans Süper ‎– Kölsche Jung  (GMO)
Die rheinische Seele des Bossa Nova.
13. THEESatisfaction ‎– awE naturalE  (Sub Pop)
Den Vertigo nach Vorne marschieren zu lassen, als Groove in einer etwas bessere Welt. Selbstbefreiung des Retro Nuevo Souls zu einer Musik der Zukunft.
14. Dr. John ‎– Locked Down  (Nonesuch)
Sind es Hunde, die da draußen heulen, oder die Stimmen der Kinder?
15. The Spaceape ‎– Xorcism  (self released)
Candomblé-Tänzer in einem mannshohen Maisfeld. Jemand hat Messer eingeschmuggelt.
16. White Car ‎– Everyday Grace  (Hippos in Tanks)
Ein langer Tunnel, einige Lichter flackern, eine Kurve ohne Ende, dann, sanfter Richtungswechsel, weiter und weiter ziehen die Abgase schwarze Linien auf weissgetünchte Wände. Natürlich aus Beton.
17. Django Django ‎– Django Django  (Because)
Neulich auf dem Campus und doch um einiges wunderbarer, als einfach nur klug und clever. Vielleicht ein Handreichen der Jam-Bands mit dem Zappelhipster, also von Campusecke zu Campusecke.
18. Eyeless In Gaza ‎– Butterfly Attitude  (Downwards)
Das Auffunkeln haben ihre Zeitgenossen komplett verlernt, im Schrecken des Alterns. Doch Altern hatten die Beiden stets eingeübt. Nun als Blues?


Singles/EP's











 


1. Fear Of Men ‎– Green Sea  (Sexbeat)
Push the splinter deeper - Underground in the vein - Too much blame to leave it all to chance - Antikes Drama als präzise gestaffelten Neuerfindung einer Creation 7". Revolving Paint Dreams ungelebter Triumph in Prometheus Schatten.
2. Jessie Ware ‎– Running  (PMR Records)
Modern Soul retten - a) elegantes Drama, Sades Verzweiflung.
 3. Les Demoniaques ‎– Teenage Lust  (True Panther Sounds)
Mit scharfer Klinge gesticktes Kissenmotiv einer fauchenden Katze.
4. Azealia Banks ‎– 1991 EP  (Interscope Records)
Wenn der Hit des vorletzten Jahres erst im November erklingt und sich zu einer Reminiszens an das Vougeing aufschwingt.
5. School of Seven Bells ‎– Love From A Stone (= B Seite) (Full Time Hobby)
Als R&B Band begeisternd. Oh, diese stillen Hits!
6. Twigs ‎– Twigs EP  (self released)
Als R&B einer neuen Zeit begeisternd. Oh, diese zarte Hipness.
7. Jessie Ware ‎– 110%  (PMR Records)
Modern Soul retten - b) architektonisches Tanzen über Breakbeats. 

8. Evy Jane ‎– Sayso  (King Deluxe)
Sie nennen es " experimental R&B".
9. Wild Nothing - Shadow  (Captured Tracks)
Eigentlich klang das ganze Album so elegant.
10. Tiers ‎– October  (bandcamp.com)
Hier warteten im letzten Jahr Blouse. Neugotisch.
11. Jessie Ware ‎– Strangest Feeling  (PMR Records)
Modern Soul retten - c) Das Schwelgen im Lichte aktueller Pop Ideen. 
12.  Zebra Katz ‎– Ima Read  (Jeffree's)
Englische Erziehung im HipHop.
13. Teleoptyk - Sacrifice  (Alfa Matrix)
1985er Technik mit neuen Maschinen. Ein älterer Herr blickt noch mal in die Runde und knipst die Cyber-Leuchte aus.
14. Red Stars Over Tokyo ‎– 4 song 12" (Hot Hair)
 Tormented war ein guter Versuch, den Geisterfilm neu zu beleben. Night of the Eagle ebenso. Warnungen wollten sie sein.
15. Jack Dice ‎– Block Motel  (Modern Love)
Hier stand im letzten Jahr Zomby. Diesmal mit mehr Nuancen.
16. Daugther ‎– Smother  (4AD)
Altes England, Deine Geschichten von versunkenen Seemännern lassen Dich nicht los.
17. Wild Nothing - Nowhere  (Captured Tracks)
Nochmal mit einem Rest alter Spröde.
18. Chairlift ‎– I Belong In Your Arms  (Young Turks)
Wenn das 90er Revival neue Texas bringt, mag ich auch deren Remixe. Kommende Stars.
19. Linea Aspera - Kinabalu  (Linea Aspera II / self released)
Doch, einmal, Alain Végas Tochter.
20. Martyn ‎– Hello Darkness  (Brainfeeder)
We are you in the future, so heisst ein Track, ein Mann hustet, es scheint ernst, der Bass setzt ein: Night after night. 


(Ziffern dienen der Orientierung und vielleicht später dem Wunsch nach Revision.)

Donnerstag, 5. Januar 2012

Letztes Jahr - Musikliste 2011

Was mir so auffiel und gefiel...

LPs:











1a. Dark Dark Dark - Wild go
Ich wünschte, sie würden sich an ihrer Pose verschlucken. Aber dann zweifele ich wieder, ob es überhaupt eine Pose ist. Mir scheint, sie haben etwas verstanden ohne dafür ihre Hütte rosa streichen zu müssen. Aber mir scheint auch, ich habe sie noch gar nicht verstanden.
1b. Kate Bush - 50 words for snow
Eigentlich noch zu früh... erst ein kleiner Schneefall und diese in Essenzen ausgespülte Version eines grossen Könnens bleibt mir rätselhaft. Ein wenig wie "Climate of hunter" aber ich weiß nicht, wem von beiden dies ein Kompliment ist.
3. Ada - Meine zarten Pfoten
Ich stelle mir vor, sie hat sieben Jahre an nichts anderem gearbeitet und es ist aufregend, die Platte auf diese Weise zu hören.
4. Merle Haggard - Working In Tennessee
Ein Rückschritt in meinen Ohren, von grossartig zu sehr gut. Eine Frechheit, dies zu behaupten.
5. Andy Stott - Passed me by
Doch etwas anderes was sich da anschleicht und kauernd im Gebüsch verharrt, ich dachte, ich kenne diese Wesen, aber sie geben wirklich keinen Ton von sich.
6. The Moth & The Mirror - Honestly, This World
Hurra! Versöhnt mit dem Schottischen Indierock, weil er endlich mal vom Boden aufschaut und dann solche Dinge beschreibt wie Seenlandschaften oder frei fliegende Schmetterlinge.
7. Zomby - Dedication
Geht auch auf 33, manchmal passen die Titel dann sogar besser. "Trauerarbeit", sagt der Künstler.
8. Enrico Rava Quintet - Tribe
Weit motivierter, als das unmotivierte Auftauchen inmitten poppigerer Unfreiheiten. Aber "Lebendige Melancholie" das würde man in dieser Welt auch gerne hinbekommen, das Geheimnis sind jedoch die Improvisationen - glaube ich.
9. Gal Costa - Recanto
Ein stilles Album voller Räume zwischen den Tönen um sich im Elektronischen mal wieder zu erfinden. Man könnte auch über formale Sensationen reden.
10. Soft Metals - Soft Metals
Die kleinen Variationen im Arrangement, die ich schätze und die Klarheit der Produktion, die mir zusagt, sprechen dafür, daß ich das Genre eigentlich gar nicht verstehe. Insofern wohl: ein überzeugendes Versagen.
11. Tinariwen - Tassili
Zugleich ein Schritt zum Weltruhm und ein Schritt in die Verschlossenheit. Will am Stück gehört sein, nicht über Kopfhörer, braucht Raum.


Singles:











1. Pional - We have been waiting for you
Leider wurde die Gitarrenversion nie auf Tonträger veröffentlicht. Wo bleibt die 7"?
2. Cass McCombs - County Line
Wieder The Band, hier eher schon Kopie, aber eine enorm feinfühlige Richard Manuel Gedächtniszeremonie.
3. Noel Gallagher's High Flying Birds - The Death Of You And Me
Was sich Supergrass' St.Petersburg bedient um Nach New Orleans zu ziehen und so um die Falsettöne kämpft ist mir gern Begleiter.
4. Zodiacs - Faraway Friend
Selten, daß mich Doppelter Retro begeistert, aber da klingt im Refrain was so Spooky wie das gesamte Unterfangen.
5. Die Vögel - Fratzengulasch
Etwas ganz Eigenes (ach, Loriot...) - das ist wahrlich so selten heutzutage und beeindruckt. Für Nachschlag bitte nicht wieder hinten anstellen!
6. Ron Deacon feat. The Kat - Electronic Music
Essay - und das gerade in dem Genre!
7. Friends - Friend Crush
Alter Trick.
8. Osunlade - Envision / Atsuta Jingu
R&B-House und eine perkussive Angelegenheit.
9. G.H. - Ground EP
Dieses Wesen wiegt sicher eine halbe Tonne, aber man hört es nicht, wenn es nach dem Mahl wieder im See verschwindet.
10. Jonny Trunk - Study Series 06: Animation and Interpretation
Hoffnung in den experimentellen Kurzfilmen der 60er.
11. The Soft Moon - Total decay (EP)
Weniger der Manchester 1979 Aspekt, als denn diese Drumbeats.
12. Blouse - Into Black / Firestarter
Etwas sehr Unanständiges, hoffentlich.
13. Sleep ∞ Over - Casual Diamond
Ähnlich Gothisch.
14. Mano le Tough - Stories EP (From the start)
Nach einigen Sekunden gibt es sich als analoger Automat aus, Töne die früher an einem Knöpfchen erdreht und heute über ein Pad gezogen werden.
15. Kassem Mosse - Enoha EP
Das kommt so langsam zu sich.
16. Various - Mu EP
Sich in den Weg stellen, dabei hübsch sein und nicht sehr nett.
17. Eugene McGuinness - Lion
Am Ende immer etwas Freches.

Ich sollte vielleicht das mit den Nummern lassen.

Donnerstag, 1. September 2011

Heute vor fünf Jahren (Spex 300 revisited)

Ich glaube, ich bin ein langsamer Mensch und gewisse Themen bleiben mit einer erstaunlichen Beharrlichkeit bei mir oder sie brauchen schlichtweg ihre Zeit um einzusickern, das Denken zu verändern und rückwärts durch die Strukturen hindurch Änderungen auszuführen. Es waren ein paar aktuelle Anlässe, Fragen zum Schreiben über Musik, welche mich an den Text erinnerten doch was genau drin stand, hatte ich längst in weiten Teilen vergessen. Vielleicht zu recht. Doch ich mag auch den Gedanken an diese späte Zeit des Kölner Musikschreibens in der noch mal so viel möglich war und es in der Regel kaum jemand bemerkte. Der ungehörte Pathos erspart Handschütteln und Ohrwatschen gleichermaßen, mag man denken, aber eigentlich war es viel besser: Es war die Zeit, in welcher der Pathos gänzlich abgeschafft wurde und das "Egal" einem mit nüchterner Macht eine angenehme Bescheidenheit beibrachte. Gelernt ist diese Lektion noch nicht zur Gänze, bin halt langsam, wie erwähnt.


Manierismus in der Rockkritik

Überlange schlanke Finger schreiben gezirkelte Worte auf billiges Papier, sie umfassen den Füllfederhalter als wären ihre Knochen aus Gummi.

Alles Quatsch! - Denn als Zweifel und Perspektivverschiebungen die Rock-Kritik erfassten, saßen axelschweissige Bartträger an klappernden Schreibmaschinen.

Eine Rock Kritik, die ihre Funktion nicht darauf beschränken wollte, Sprüche eines Radio DJ's über die "neueste heisse Scheibe von" auf Papier zu bannen, hatte Literatur- wie vor allem Jazzkritik als Leitfaden. Was der US-Amerikanische Rolling Stone und bald darauf Creem dann an Stilen, Betrachtungsweisen und Positionen anbot, beschrieb den Kosmos einigermaßen flinker Ex-Studenten (was sich bis heute nicht großartig geändert hat) die überhaupt erst dank der Beatles und Bob Dylan auf die Idee kamen, daß sich eine detaillierte und ihr Sujet ernst nehmende Auseinandersetzung mit Rock Musik lohnte. Was dann möglich wurde, muß für eine kurze Zeit so geil und pubertär gewesen sein, da musste jeder gelungene Satz ein freches Grinsen beinhalten, schrieb man doch noch gegen eine Öffentlichkeit, denn die populäre Musik entsprach nicht dem kulturjournalistischen Jargon. Es war noch ein weiter Weg bis ins Feuilleton.

Die frühe avancierte Rockkritik wähnte sich inmitten eines goldenen Zeitalters. Was wartete hinter der nächsten Ecke, neue tolle Nachrichten von Dylan an die Welt, der Aufbruch nach der Psychedelischen Phase? - Doch es wartete der Tod. Das Altamont Rockfestival hinterließ eine Blutspur und öffnete den Blick in die Schattenwelt der neuen Errungenschaften. Als Langdon Winner in seinem Essay "the strange death of Rock'n'Roll" den Impuls der Beatles für eine neue US-Amerikanische Rockmusik pries und von einer Musik träumte, die alle Töne und Bilder seines Landes mit einschließen könnte, sickerte das Bild des Authentischen und der abbildenden Funktion in die Rock-Rezeption. Ideen aus Sturm und Drang, Klassik und Romantik tanzten so leidenschaftlich wie unbeholfen durcheinander, als müsste das Schreiben stets formales Zeugnis des Hippie Human-Be-Ins ablegen. Doch für das gab es im Jahr 1967 nur verzücktes Gestammel.

Greil Marcus und Lester Bangs waren wahrscheinlich von der Brutalität in Altamont weit weniger überrascht als viele Andere, doch in der Folge finden beide einen neuen Ton, eine Sprache des Verunsicherten der nicht mehr an die Funktionalität der gewohnten Realität glaubt. Der Kunsthistoriker Gustav René Hocke sah in seinem Buch "Die Welt als Labyrinth" eine derartige Situation erstmals circa 1520, interessanterweise dadurch gekennzeichnet, daß das Wort "Modern" Bedeutung erlangt. Darin liegt ein Sich-Abwenden von der in scheinbarer Sicherheit und Klarheit verwurzelten Renaissance. Er beschreibt die Sprache des Manierismus als "bewusst Anti-Klassische Ausdrucksformen". Mit Klassik kontrastiert, verdeutlicht er den Manierismus: "Die Klassik will das "Verborgene" des Mysteriums in der "Verständlichen" nur "sublimierten" Natur zur Darstellung, der Manierismus will das "Verborgene" in einer "emblematischen", in der "Idee" meist "deformierten" Natur zur Wirkung bringen", so Hocke im genannten Werk. - Das Objekt des Manierismus ist der Spiegel. Parmagianino malte seine Antlitz in einem gewölbten Spiegel, verschobene Formen, kennzeichnen das Werk. Der Zweifel an der Gültigkeit der Sichtweise, an der Unveränderlichkeit der Proportionen und eine Konzentration auf vormals unwichtige Details werden zentral, zudem beginnt der Siegeszug des Subjekts, das Ich spiegelt sich oder es spiegelt die Welt in sich. Da wären wir beim Rezensenten.

1971 begann Lester Bangs Winners Klassizismus auf den Kopf zu stellen und erkannte sich selbst im Feedback einer Freiheit, welche die Freude am Geräusch des Teenie Rocks mit den Velvets und dem Free Jazz Ornette Colemans verband, verwirklicht im Werk der Stooges. Dabei beschrieb er den Blick eines Individuums, eines unzufriedenen und zugleich zutiefst erfüllten Suchenden Menschen. Diese individualisierte Perspektive, Jahre später ein einem Text über Van Morrisons Astral Weeks zu einer bewegenden Innenwelt-Reise verdichtet, war Bangs große Neuerung. Sein "Ich" stand nicht als Ausrede für fehlendes Wissen, sondern als starke und zugleich hochverletzliche Position. Er war allein und Iggys gewundene Ballerina-Aggression sprach zu ihm.

Greil Marcus glaubte nicht an eine Klarheit, die sich aus der Beschäftigung mit historischen Fakten einstellen könnte, er glaubte an den Mythos und seine Spuren in einer Nation von (Tag-)Träumen. In seinem Buch "Mystery Train" setzt er Schlaglichter, welche den Mythos kurz erhellen und Momente preisgeben die er durchaus als kollektive Erfahrungen beschreibt. Eine Ausführliche, jedem Detail eine Bedeutung zuweisende Beschreibung des ellenlangen Intros von "Papa was a Rolling Stone" der Temptations führt er fort: "Ich kannte mehrere Leute, die am Straßenrand hielten und zitternd und abwartend dasaßen, während der Song aus den Lautsprechern kroch und die Nacht erfüllte." - Pathetischer Manierismus: Die Begegnung mit dem Song der Temptations wird zum Blick in ein Mikroskop für Empfindungen. Wenige Sekunden eines Songs blühen in seiner Beobachtung auf, als eine komplette soziale Sachverhalte beschreibende Kunst. Er war ja klug genug, die Bilder Amerikas in der Rockmusik als Mythen zu begreifen (auch eine Abkehr von Langdon Winner). Der Blick auf die "Basement Tapes", jene verstörenden Privat-Aufnahmen, die Bob Dylan und The Band 1967 entgegen aller Klänge der Zeit einspielten und die in Auszügen erst 1975 veröffentlicht wurden. "Ihre Musik war auf eine Weise gestaltet, die einen Weg zurück ins innere Amerika wies, und es funktionierte", schreibt er über die Band und zeigt, wie ein vermeintlich klassischer Ansatz, der sich auf Traditionen beruft, in eine Subjektivität führt.

Zu diesen Positionen addieren sich die von Außenseitern, etwa jene J.R. Youngs. Wie Arcimboldo Menschen als Assemblage aus Früchten und Ernteerzeugnissen portraitierte, so schrieb Young, statt Rezensionen in den bekannten formalen Techniken, Geschichten. Gut möglich, daß diese Form nicht auf ihn zurückgeht, aber er perfektioniert den Stil im Rolling Stone ab 1969. Eine ellenlange Rezension von Crosby, Stills, Nash & Youngs "Deja vu" entpuppt sich als ein Gespräch zweier hipper Bay Area Plattenverkäufer über Musik, Drogen, Kalkulation und das Ende des Hippie-Traums. Ein wütender Leserbrief fragt, wieso dieser Mist neben Langdon Winners (!) legitimer Rezension abgedruckt wurde. Der Rockhörer ist erstmal kein Freund des Manierismus, er wünscht oftmals Produktinformation und klare Wertungen.

In Deutschland bekommen Hans Keller und Ingeborg Schober entsprechende Watschen ab. Sie schreiben in der Sounds (die sich auch erst durchringen musste, neben Jazz auch Rock zu behandeln, dann aber zum wichtigsten Musik-Magazin der 70er wurde) über Glam-Rock und finden ihn gut, wie auch der schillernd selbstverliebt schreibende Yves Adrien in Paris. Dandyismus fußt auf manieristischem Zweifel und Subjektlust, sein Pop-Schauplatz war Glam und bald Punk. Da steht dann Keller als Titelheld (!) in Lederjacke auf der ersten Punk thematisierenden Sounds und zieht ein Gesicht *. Nach New York führt ihn bald die Szene um Lydia Lunch, doch dann entdeckt er dort den ganz frühen Rap, zurück in Europa fasziniert ihn Italo-Disco, es kommt zu einem legendären Spex Artikel. In einem weiteren zelebriert er sich selbst - zurecht, hatte er doch etwas zu sagen über Wandlung und wache Wahrnehmung.

Das "Ich" wurde ab Punk die zentrale Figur der Pop-Rezension. In England schreibt Paul Morley für den NME und seine an französischer Theorie, Nouvelle Vague Kino und deutschen Autorenfilm geschulte Sichtweise führt zu einer nomadischen Sprache, er schaut vorbei, findet, betrachtet feine, scharfe Kanten bei Joy Division oder Ludus und fordert bald Pop, als geschwätzige Basis für große Gesten. Den stilistischen Experimenten des frühen Morley entsprechen Harald in Hülsens Rezensionen im Musik Express voller "///" als handele es sich dabei um postmoderne Rimbaud Übersetzungen. Den Pop Morleys übertrumpft hierzulande Andreas Banaski alias Kid P. - Er beherrscht Julie Burchills Polemik und seine Subjektivität bedeutet Einblick in das Privatleben des Kid P. - eine in Wikipedia auf ihn verfasste Hymne berichtet auch von den Folgen seiner Perspektive für die kommende Popliteratur. Die übernimmt seinen Stil des bösen, indiskreten Kommentars, der Ich-Erzählung und des Glaubens an die Größe von Pop und übersieht etwas, was einem wiederum Hocke erklären kann: "Die Gefahr der Klassik ist die Erstarrung, diejenige des Manierismus die Auflösung" und weiter: "Manierismus ohne Klassik als Wiederstand wird Manieriertheit." - Tatsächlich kannte Kid P. (wie auch alle anderen hier erwähnten) ihr Sujet, sie verfügten über eine durchaus "klassische" Popbildung (Banaski schrieb später im Sinne einer Klassik, die ihr Scheitern am HipHop mit Goethe argumentiert) und waren in der Lage den Spiegel in beide Richtungen zu benutzen. Klare und deutliche Urteile verliefen nicht in subjektive Geschmäcklerei oder reines Fantum, denn jene noch so eindeutige Aussage bezog sich auf ein zweifelndes, anti-authentizistisches Denken.

Das fehlt heute dem Intro-Ich und der Irgendwie-Rezension. Wenn es schon einen Standpunkt gibt, so wird er als Sicher geglaubt und da der Einsatz so lächerlich gering ist, muss sich kein Zweifel erheben. Ein Spiel um nichts.

Der Niederländer Roel Bentz van den Berg verkörpert einen Greil Marcus geschulten pathetischen Individualismus., Sein Luxus waren Texte über einen einzigen Song seiner Wahl, die er für das NRC-Handelsblad schreiben durfte und die ähnlich der Seitenlangen frühen Rolling Stone Rezensionen, dort Raum für Detailansichten boten. Sein verdichtender Blick (der mir beispielsweise Neil Youngs "Cortez the Killer" erklärte) deutet auf ein weiteres Detail: die Aufmerksamkeit oder einfach Fähigkeit, kleine Dinge wahrzunehmen und Worte dafür zu finden. Damit könnte auch eine individualisierte Rezension einen Gewinn bringen, nur schreibt die sich nicht mal eben so runter.

Oliver Tepel

[Erschienen in Spex Nr. 300 - September 2006]

* Später stellt Hans Keller in einem Leserbrief klar, daß nicht er sondern der Sänger der Punk und Comedy Rockband Alberto y Lost Trios Paranoias der Titelheld besagter Sounds Ausgabe war.

Montag, 3. Januar 2011

Letztes Jahr - Musikliste 2010

Diesmal zeitig, nachdem ich heute bemerkt habe, daß sie eh schon seit einiger Zeit an anderem Ort im Net zu sehen sind. 2010 Jahr des Abschieds von der Geschmackssicherheit oder: Lieber Spaß als Gähnen. OK, als alleiniges Motto kann das nun für die Charts auch nicht gelten. Es gab ein paar interessante Veröffentlichungen aus unerwarteten Ecken und auch mal wieder etwas Leben zu finden, aber ich befürchte, daß es dennoch keine der Nennungen in eine Top 20 des Jahres 1980 gebracht hätte.

LP's:
1. Merle Haggard - I am what I am
Die Inspiration im Alter, entspannter als Duke Ellington, ernster als John Hartford, diesen Beiden verwandt und auf diese Weise Country-Jazz in ungehörter neuer Größe. Überraschende Einsichten in die Musik.
2. Diverse - Bangs & Works Vol. 1 (A Chicago Footwork Compilation)
Rasselndes Schweben in extrem kurzen unweltlichen Episoden. Noch nie zuvor gehört. Überraschung des Jahres in der angewandten Elektronik.
3. 7 Walkers - 7 Walkers
Überraschung des Jahres der Alten und Mittelalten: Hebt die gesamte Jam-Band Bewegung auf ein neues Niveau.
4. Warpaint - The Fool
Überraschung des Jahres der Jungen. Wie sie sich Zeit lassen, explorieren, Harmonien finden und den Ettikettierungen entkommen! Lang nicht mehr so von einer Band so begeistert.
5. Julie Slick - Julie Slick
Instrumentalmusik im Sinne der SST Platten um 1988, weitergedacht und dank dieser Bassistin von gruseligen "ismen" befreit. Progressive Überraschung des Jahres.
Singles:
1. Sade - Soldier of Love
2. Factory Floor - A wooden Box
3. Eisenfunk - Pong
4. Javiera Mena - Hasta la Verdad
5. Rox - Rocksteady
6. Noisuf-X - Deutschland braucht Bewegung
7. Cults - Go outside
8. Gil Scott-Heron - Me and the Devil
9. Lady Gaga featuring Beyoncé - Telephone
10. Cologne Tape - Render
11. Effi Briest - Long Shadow
12. Reaper - Robuste Maschine
13. Karen Elson - The Ghost who walks
14. Zinc featuring Ms. Dynamite - Wile out
15. Sweet Billy Pilgrim - Future Perfect Tense

Ach, ja der Blick zurück: Ich finde, Bat for Lashes - Daniel war schon das tollste Stück 2009 und ich kann mich kaum mehr an eines der in meinen damaligen Single Charts genannten Deep House Stücke erinnern. Dieses Jahr fehlen sie ganz - bin ich das oder ist der einstige Glanz einer Routine gewichen? ... Mal sehen, was ich von dieser Liste in den kommenden Monate revidiere und verschiebe. Komische Sache, das mit den Listen, aber irgendwie erscheinen sie mir über die vielen Jahre hinweg als eine der besten Erinnerungsquellen, zugegeben, durchaus mit Tagebuchcharakter. Und ja, der Vergleich einzelner Jahre mag auch tatsächlich Einsichten in musikalische Entwicklungen aufzeigen die über die persönlichen Werturteile hinausgehen.

Samstag, 1. Januar 2011

Teena Marie 1956 - 2010


Vor einigen Jahren durfte ich einige Zeit mit dem letzten Arrangeur der großen Zeit bei Philadelphia International, Larry Gold, ein Gespräch führen. Ich fragte ihn nach Laura Nyro, die ihr wundervolles Album "Gonna take a miracle" in den Philly Studios aufgenommen hatte. Immer noch etwas befremdet erzählte er von diesem jungen Mädchen, welches darauf bestand die Arrangements selber zu schreiben und das Orchester zu dirigieren und weit mehr Takes zu verlangen, als man dies in der Hitfabrik gewöhnlich zuliess.

In vieler Hinsicht war für mich Teena Marie die Persönlichkeit, welche all das, was Singer Songwriterinnen der Hippiezeit für sich eingefordert und geschaffen hatten, in den R&B trug. Ähnlich Kate Bush in ihrer Welt war sie die Vertreterin einer jüngeren Generation, konfrontiert mit den selben Problemen, welche Selbstbewusstsein und eine genaue Idee des eigenen künstlerischen Anspruchs in der Plattenindustrie mit sich bringen können; erst recht für eine Frau und im Falle Teena Maries muss man seltsamerweise hinzufügen: insbesondere für eine Frau weisser Hautfarbe.

Die 1956 in Santa Monica geborene Kalifornierin, Tochter portugiesischer Vorfahren, erzählte häufig in Interviews von ihrem Aufwachsen mit R&B und Soul. Sie wuchs unweit jener Ecke L.A.'s auf, die man "Venice Harlem" nannte, fand dort viele ihrer Freunde. Dafür musste sie sich, zurück im heimischen Viertel "Nigger lover" nennen lassen. Daß sie zudem einen guten Teil ihrer Kindheit und Jugend vor dem Radio verbrachte, hörte man ihrer Musik an, nicht wenige Stücke enthielten kenntnisreiche Zitate und ihre kompositorischen Finessen verwiesen nur auf die besten Lehrmeister.

Ähnlich Van Dyke Parks oder Tim Buckley begann sie im Kindesalter als Schauspielerin, und erzählte später, dort gelernt zu haben, daß man keinem Andern die eigenen Entscheidungen überlassen dürfte. Als die 20 jährige einen Vertrag mit Motown unterschrieb, ahnte ihr Label noch nicht, daß es ihr mit dieser Einsicht sehr ernst war. Es dauerte einige Zeit, bis zu ihrer ersten Veröffentlichung. Eine künstlerische Zusammenarbeit mit Rick James öffnete offenbar Türen, die ihr bis dahin verschlossen waren, da sich Black Music in Zeiten der Politisierung von Künstlern mit weisser Hautfarbe abgrenzte. So widerfuhr es ihr, wie anderswo schwarzen Rockmusikern: ihre erste LP erschien ohne ein Bild von ihr auf der Coverfront. Das extrem photogene Mädchen sollte sich hinter seinem Gesang verstecken und gelangte nahezu als trojanisches Pferd auf die Playlists schwarzer Stationen. Denn Teena Maries kräftige Stimme war die einer Soulsängerin, Blue Notes traf sie spielend, nie klang auch nur eine Phrasierung angestrengt und dies in einer Weise, die sie tatsächlich dem Popmarkt kaum vermittelbar machte. Marie hatte nur einen einzigen US-Pophit, ansonsten war sie in ihrer gesamten Karriere allein in den R&B Charts erfolgreich. Was auch heißt, daß niemand ihr oder Motown den Schachzug übel nahm. Nelson George schrieb in "The Death of Rhythm & Blues" wie viele schwarze Radiostationen sie auch zu Zeiten deutlichster Abgrenzung explizit als einzige, nicht-schwarze Künstlerin spielten.

Zwischen epischem Soul, und vor allem inspirierten Disco-Funk Tanzstücken entwickelte Marie bald eine Stilistik komplexer Arrangements, über welche ihre mal aggressive dann wieder schmachtende Stimme Akzente setzte. Auf ihrem Debüt hatte ihr Duett mit Rick James "I'm just a sucker for your love" das gößte Hitpotential und war zudem das Outing einer langen und oftmals wohl sehr dramatischen Beziehung. Auf den kommenden Platten schuf sie weitere Tanzflächenklassiker: "I need your lovin'", "Square biz", "It must be magic" oder "Behind the Groove", letzteres brachte ihre Musik nach Europa und in die britischen Top 10. Schon ihre ersten Alben wurden in den USA mit Gold ausgezeichnet und daß, ähnlich wie die Platten von Maze und Cameo, ohne einen nennenswerten Anteil weisser Käufer. Lies sie ihre zweite LP "Lady T" noch von Minnie Ripertons Witwer Richard Rudolph produzieren, entstand der Nachfolger "Irons in the fire" bereits fast vollständig in Eigenregie. Trotz des Erfolgs lag eine solche Unabhängigkeit nicht in Motowns Interesse zumal Marie sich anschickte ihre Alben als Liederzyklen zu begreifen, kunstvolle Gesamtwerke, die neben potentiellen Hits Sprachstücke und epische Explorationen beinhalteten. Als es zum Streit um Veröffentlichungen kam, zog sie vor Gericht. Das in mit ihrem bürgerlichen Namen als "The Brockert Initiative" bekannt gewordene Urteil hinderte in den folgenden Jahren auch andere Label daran, einen Künstler unter Vertrag zu halten die Veröffentlichung seiner Arbeit aber zu verweigern.

Ihre erste Platte für ihr neues Label "Epic" zeigte, was Motown zu weit gegangen sein mag, Marie experimentierte nun mit Rock und Latin und Jazz. Auf der Coverrückseite las es sich wie früher bei Laura Nyro: "Written, arranged and produced by Teena Marie". In den folgenden Jahren spielte sie mit den aktuellsten Entwicklungen der Sounds und Technik, war stets auf einer Augenhöhe mit Prince, fügte psychedelische Elemente oder komplette elektronische Passagen in ihre Musik, sowie immer häufiger sozio-politische Kommentare in ihre Texte. Alle neun Alben die sie bis 1990, inklusive des HipHop geprägten "Ivory", aufnahm sind des Hörens wert und erscheinen heute als ungehobene Schätze eines mitunter auch exzentrischen Selbstverständnisses und dem Können für große Gesten.

Marie litt am Tode Minnie Ripertons, widmete ihr Stücke, so auch in "Opus III" auf "Naked to the world". Infolge eines Bühnensturzes 1988, just zu der Zeit als "Oh la la la " sich zu ihrem einzigen Pop Hit aufmachte, endete sie für Monate im Krankenhaus. Seltsamerweise wurde es nach dem Hit zusehends stiller um sie. Allein eine Veröffentlichung auf einem Indie Label spielte sie während der 90er ein, erst 2004 gelang ihr das Comeback. Die jüngere R&B Szene zollte ihr nun Tribut und Marie fand sich umgeben von neuen Fans. Im letzten Jahr erschien ihre Huldigung an New Orleans "Congo Square", es wird ihre letzte Platte bleiben. Teena Marie starb am 26.12.2010 im Schlaf, sie hinterlässt eine Tochter.

Dienstag, 5. Oktober 2010

Ain't it mad how time slips away?


Nächste Woche heute Übermorgen läuft, so verraten es nicht allein die Plakate an den Wänden, die US-Amerikanische Serie "Mad Men" in ihrer eingedeutschten Version an. Ich werde mir diese Serie nicht anschauen, schau' eh schon genug Fernsehen und aus unerfindlichen Gründen plagen mich schwere Abwehrimpulse gegen kluge US-Serien.

Dennoch fielen mir zwei Dinge in der Berichterstattung im Vorfeld der Ausstrahlung auf.

Zum einen wird stets auf die minutiöse Ausstattung und auch die präzise Rekonstruktion des sozialen Habitus der Protagonisten verwiesen. Diese Arbeit scheint nahezu einen Forschungscharakter zu besitzen. Kommentatoren berichten, wie wenig man über jene Zeit Ende der 50er bis Anfang der 60er wisse. Dann liest oder hört man Zitate der Serienmacher die nochmals betonen, daß das Publikum auch so eine genaue Arbeit verdiene, denn sonst würden sie durch kleine Unpässlichkeiten abgelenkt. - Insofern zähle ich auch nicht zum Zielpublikum der Serie, ich bin nicht 70 und habe keine Erinnerung an jene Zeit, ganz zu schweigen von ihrer Gestalt in den USA. Aber es beeindruckt mich, daß man in den USA nun Serien für 60 - 80 jährige mit hohem Aufwand realisiert. Oder ist dem nicht so und wir tappern nur fröhlich durch einen etwas blöden Kreisschluss von dem man hofft, er wirke wie eine selbsterfüllende Prophezeihung. Wenn man den Leuten nur lang genug sagt, wie es war und auch nicht davon ausgehen muss, daß sie nachforschen (wo auch, etwa bei Bourdieu?), so werden sie schon glauben, wie hier alles sehr genau nachgestellt wurde. Ist es nicht wahrscheinlicher, daß auf diese Weise Bilder konstruiert werden und dabei sogleich mit dem Wertigkeitssiegel höchster Authentizität ausgestattet?

Tatsächlich ist es interessant, daß wenige Klischeebilder über jene Phase existieren. Die Phase nach dem Rock'n'Roll und vor den Beatles, das kurz wieder scheinbar saubere US-Amerika welches natürlich schon immens von einer neuen Form von Popkultur geprägt wird, einer, die jedoch just wie gebändigt und kanalisiert erscheint. Keine Lederjacken und Tollen, Petticoats und wirklich wilde Jungs passen in die Vorstellung von jener Zeit und die uns vertrautere Kultur nach den Umwälzungen der zweiten Hälfte der 60er ist noch ungeahnt.

Gleichwohl gibt es natürlich ein paar rare, oft bezaubernd befremdliche Bilder aus diesen Tagen. Die Kamera war immerhin schon erfunden, ja sogar eine Art Ton hatten die Filme bereits. Rock Hudson, Doris Day, Sean Connery, Julie Andrews und Jack Lemmon hießen einige Pioniere des Kintopps jener Epoche. Namen die fremd in unseren Ohren klingen. Es gibt leider nicht sehr viele Quellen dieser fernen und unbekannten Zeit.

Tatsächlich hat sie sich zudem in der Vorstellungswelt versteckt und dort ganz klein gemacht. Gleich mehrmals las oder hörte ich, wie in Vorberichten von einer Welt vor 40 Jahren gesprochen wurde. Vor 40? 1970? - Schwupps fiel eine ganze Dekade unter den Tisch. Vielleicht liegt dies am Alter der heutigen Medienfachmänner. Sie sind nun auch nicht mehr jung. Stankonia, Kid A, Marshall Mathers, Lift your skinny Fists, Sex mit M. Mayer, Waking the Dead, High Fidelity, Virgin Suicides, O Brother where Art Thou? - Alles nun zehn Jahre her, so schnell zieht die Zeit.

Vielleicht kommt eines Tages eine Serie über die Werbe- und Medienwelt um 2000 und den Menschen darin, eine Zeit von der wir wenig wissen.