Sonntag, 27. Dezember 2015

I don't sound like who is Elvis


Vor gut anderthalb Jahren las ich in einem Rundschreiben des Testcard Magazins, daß Rezensionen nun nach Genres aufgeteilt werden. Ob es an der Vergangenheit oder meiner Jugend lag, einst fand ich Genres spannend, heute scheinen sie mir ein Zeichen des Verschwindens von Pop - oder besser jener Idee des Popverständnisses, als bewegter und bewegender, unkalkulierbarer Energie. Mein Kommentar erschien damals in Testcard 24.





I don’t sound like nobody


Die Geschichte ist Legende. Der junge Mann wollte seiner Mutter ein Geburtstagsständchen aufnehmen. Dafür gab es anno 1953 Playback-Karaokestudios in Telefonzellenformat, welche mit einer Art Matritzenschneidemaschine verbunden waren. Die Sekretärin des Memphis Recording Services, Marion Keisker fragte den jungen Mann: »What kind of singer are you?« He said, »I sing all kinds.« I said,»Who do you sound like?« He said,»I don't sound like nobody.«, so berichtet es Peter Guralnick in seinem Buch Last Train to Memphis. Hochamtliche Pop-Geschichtsschreibung somit. Wir wissen, dass Keisker ihrem Chef Sam Phillips von der guten Stimme des jungen Mannes berichtete und dass dieser ihn einlud, wie der junge Mann dann irgendwie nicht so recht wusste, wohin mit sich, mit der ihm an die Seite gestellten Band oder mit seiner irdischen Bestimmung und wie er schlussendlich ein altes Country Blues Stück anstimmte: »That’s all right» (Arthur [»Big Boy«] Crudup) / »Blue Moon of Kentucky« (Bill Monroe), Sun Records, Sun 209, 19. Juli 1954. Oder wissen wir  nicht?

Who is Elvis? 


Man könnte fast denken, ein Rave-Techno-Hit aus der Loveparade-Zeit setzte den Schlusspunkt unter eine Erinnerungskultur, die sich längst als lebendiger Mythos verstand: »Die Geburtsstunde unserer Popkultur.« – Klar, man kann darüber streiten, mit Ruth Brown oder mit Chuck D. argumentieren, aber wird »That’s all right« gespielt, entwickelt der außer Rand und Band singende Junge, gerade weil er nur vom Minimalismus einer elektroakustischen Gitarre und eines Standbasses begleitet wurde, jene Energie die immer noch Zeiten überbrückt. Also was nun? Geschichtsstunde? Mythos? Vergessenswerter Ballast? Exotische Wiederentdeckung?
Phenomanias / 
Interactives Techno–Hit suchte hingegen noch die Provokation. 1992 eine Geste von Wave-Veteranen auf der neuen Welle. 22 Jahre später erscheint der Gedanke nicht fremd, das Werk des bekanntesten Stars der Rock-Phase der Popmusik erstaunt wiederzuentdecken. Erst recht nicht aus der Perspektive junger Hörer. Die wissen auch, dass nicht Techno jenes Zeitalter beendete. Es scheint mehr, wagt man denn zu werten, dass es irgendwie aussickerte. Das wäre die Prämisse dieses Textes: Ob bei Elvis oder weit davor, in der Historie, die Karl Bruckmaier in The Story of Pop beschreibt: Geschichte hat einen Anfang und auch ein Ende. Darin unterscheidet sich Pop nicht von der Malerei der Renaissance, dem Roman oder der Oper. Pop hat seinen Beginn in der bislang größten Völkerwanderung und Völkerverschleppung und entsteht entlang und aufgrund weltanschaulicher, sozialer und technischer Veränderungen. Und gleich dem Roman oder der Oper bedeutet sein Ende kein völliges Verschwinden, sondern den Verlust an sozialer Relevanz, an neuen künstlerischen Ideen, insbesondere solchen, die nicht zusehends kleinere Kreise ziehen. Dafür wird Pop zum Thema der Wissenschaften, wird geordnet und mit mehr und mehr Begriffen versehen, sprich: akademisch  historisiert.
Eine technische Revolution begleitet dieses Verklingen: die Digitalisierung mit ihren potenziell endlosen Bibliotheken. Die unsichtbaren, oftmals nicht mal virtuell zum stöbernden Entdecken gemachten Gänge dieser Bibliothek benötigen Ordnungssystme. Der Klick auf den »Genre«-Reiter bei iTunes oder die professionell charmante Sortierung: »das könnte Ihnen auch gefallen«. Tatsächlich ist das mitunter sehr hilfreich. Wer Throbbing Gristle mag, entdeckt Krylon Hertz. Natürlich können solche Linien auch rückwärts, also historisch, funktionieren. Die bürokratische Revivalkultur der 1980er sorgte für entsprechende Übersichtswerke und eine Generation ordentlicher Buchhalter. Als die Revivals in den 1990ern und Nullern alles Vergangene auf einen »Classic«-Sockel hievten, verloren sich die zuvor noch rituell ausagierten sozialen Bedeutungen. Dieses Vergessen ermöglichte eine Freiheit, welche die Älteren im Entdecken zuvor ästhetisch oder ideologisch verschlossener Bereiche auskosteten: Progressive rocking all over the world!
Auf diesem Weg vernerdet Musik. Hier die alten Sammlerstücke, dort die Systematisierung des Neuen. Wo nicht mehr das Cover im Laden, Pop-Magazine oder Werbungen Aufmerksamkeit erzeugen, erscheint digitales Datengut als enorm flüchtig. Die Bandcamps und Soundclouds steuern dagegen, mit digitalen Covern, User-Charts und der Suchfunktion entlang von Genrebegriffen. Genres fungieren längst nicht mehr als Hort der Außenseiter, sondern markieren die neue Ordnung. Verschmähte Sparten, welche Buchhandlungen einst in quietschenden Drehregalen aus Plastik verstauten, stehen längst auf den selben Furnierbrettern wie Henry James. Aber wo ist der jetzt eigentlich eingeordnet? Was kein fixes Genre hat, verbleibt zusehends im verlorenen Irgendwas. Egalisierung ist sicher ein kultureller Gewinn, aber das präformierte Angebot langweilt am Ende nicht nur den Kunden Adorno. Wo ist Raum für Unerwartetes, für Bewegung? Die Verwaltergeneration kann da nicht helfen, die Classic-Generation ebensowenig. Wir müssen uns verstreichen lassen.

And here I sit so patiently waiting to find out what price
You have to pay to get out of going through all these things twice


Pop hat diese zweite Runde, in Dylans oder Marx’ oder Derridas Sinn schon längst durchlebt. Sie schuf verwaltete Geschichte in verwaltenden Genres, wo die Stile längst dritte und vierte Runden drehen: Hauntology. Die Schraube lässt sich nämlich gar nicht festziehen, doch im unerbittlichen Versuch, schaben wir ihr Gewinde ab. So ändert sich trotz digitalisierter Erinnerung etwas. Die Wiederholung erscheint dem Klassizist gewordenen Revolutionär als Farce. Mit jener Macht der Orthodoxie, welche Derrida in Marx & Sons den Marxisten und Marxistinnen diagnostiziert, versucht man Deutunghoheit zu bewahren. Zum Glück wurde Pop (noch) nicht gründlich genug verwissenschaftlicht. Zudem meiden Gespenster klare Konturen. Es spukt, wo das Vergangene im Prozess seiner Auflösung innehält und sich als seltsame Erscheinung in Erinnerung bringt. Vergessen beginnt als zersetzender Prozess. Zusammenhänge und komplexe, wertende Strukturen werden undechiffrierbar oder verschwinden. Es bleiben Mythen und neue Deutungen. Vielleicht ist der Wandel die übersehene Essenz der hauntologischen Wiederkehr. Nicht digital fixiert und dem Genre entflohen sabotiert der Wandel die paradoxe Idee eines lexikalischen Umgangs mit Geistern. Vielmehr wird die Erinnerung selbst zum Geist, als fernes, fragmentarisches, aber zugleich noch einprägsames Echo. Es erklingt im Hall der Stimmen von Boy Friend oder in den unbestimmten, impressionistischen Songs Lucrecia Dalts. Wenn Grimes die Musik Enyas als Vorbild anführt, verhallen alte Zusammenhänge. Interviewer, die mit hochgezogener Augenbraue »Ähnja?«fragten, kämpften aussichtslos um Definitionsmacht. Die jungen Leute müssen sich nicht einmal mehr darüber ärgern, ihr pragmatischer Umgang entspricht dem Vergessen: also nicht funktionalisiert wie ein digitales Sample, sondern als mythenverliebter Hauch. So spukt der Wandel in einer Musik zwischen gotischem Dream Pop und R&B, bei Evy Jane, Jody oder FKA twigs. Ihre Struktur des Mixens ist jene, an der auch Elvis partizipierte. Allein, die Räume wurden enger, die Schritte kürzer und die zu überbrückenden Grenzen harmloser. Mag auch sein, dass die erwähnten Töne noch viel zu fern des Vergessens sind. Doch unentwegt verwischen Geister mit breiter Besenschnauze, gleich dem Hund in Disneys »Alice in Wonderland«, die Fährte, der sie nachstellen. Es gibt kein Weg zurück.
Jenseits von Genres und gespeicherten Daten, determinieren Lebenszeit und Neuinterpretation die Gesetze des Vergessens. Hier mag Neues entstehen. Manchmal erinnern wirklich bedrohliche Wiedergänger die Popmusik an ihre einstige Kraft, weniger bei Oneohtrix Point Nevers verkochten Nudeln, eher bei Conchita Wurst. Sie wiederholt »I am what I am« als Notwendigkeit fern aller Farce. Eine dramatische Geste vor dunklem Horizont. Doch da reden wir über Politik und Ideologien, todbringende Genres, dem Spielerischen der Pop-Unmittelbarkeit abhold. Sie gehorchen dem unbewussten Geisterspiel Derridas viel mehr als Pop es je tat.

Oliver Tepel

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