Stiller
Schreien
Sie
kam wie aus dem Nichts. Eine dieser Musikdateien, von Freund zu
Freund verlinkt, nett, kurzweilig, meist schnell vergessen. Doch hier
lag der Fall anders, das „Hide“ betitelte Stück blieb mit seiner
seltsam stillen Tragik in Erinnerung. Oder was war es, das die helle,
junge Stimme der Sängerin namens Twigs mitteilen wollte? Euphorie
gar? Den Gesang begleitete ein metronomischer Takt, der am Ende des
Stücks im mechanischen Klackern eines Uhrwerks erstirbt, dessen
Federwerk die letzte Spannung entweicht.
Unsere
flüchtigen Pop-Phänomene entstehen heute fern der Printmedien, im
Stille Post Prinzip. Das Flüstern verstärkte ein Video: Zwei
halbnahe Einstellungen auf einen sehr schlanken nackten Körper von
Bauchnabel bis Knie vor rotem Hintergrund. Der Körper in schwarz
weiß, das Geschlecht verdeckt von einer signalroten Flamingoblume,
ein Spiel mit den Assoziationen des schildförmigen Hochblatts und
des aufragenden Blütenstands.
Über
die Künstlerin war nichts zu erfahren, derweil drei weitere Stücke,
nebst künstlerisch reduzierter
Videos erschienen. Dann sah man die Britin im Herbst 2012 auf
dem Cover des immer noch trendgebenden i-D Magazins, als eines von
mehreren hoffnungsvollen Gesichtern der „just Kids“ Ausgabe.
Kids, die bald vergessen sein werden? Längst regiert routinierter
Zynismus die Pop-Wahrnehmung, stets geht man davon aus, dass etwas
nur clever lanciert wurde. Doch von wem? Twigs vier Stücke
erschienen als Privatpressung auf Vinyl. Und worunter sollte diese
Musik verortet werden? Man einigte sich auf R&B mit diversen
Zusätzen: „Dark“, „Alternative“ oder gar „Gothic“.
Als
wäre all das nicht verwirrend genug, musste sich Twigs im letzten
Jahr, nach der Beschwerde einer gleichnamigen Band, umbenennen. Als
„FKA [formerly known as] twigs“ veröffentlicht sie nun in diesen
Tagen ihr Debütalbum. Dieser Anlass führt sie nach Berlin, um der
deutschen Presse erste Interviews zu geben. Die 1988 als Tahliah
Barnett Geborene wirkt dabei fern von Star-Ambitionen, eher wie
jemand, der etwas anders tickt, der Kraft und Glück hatte, sich
nicht verbiegen zu lassen. Trotz ihrer Liebe für auffällige Looks,
ein zurückhaltender Mensch und so bald mit dem Image des
Stubenhockers versehen: „Die Medien verpassen dir gerne ein
Image, so entstand das Bild der Introvertierten. Ich bin Einzelkind
und war das einzige mixed race Mädchen in der
Schule. Beides verstärkte, dass ich mich eher mit mir selbst
beschäftigte, statt mich an etwas zu hängen, bei dem man sich am
Ende doch nur schlecht fühlt.“
Die
zentrale Figur des Pop ist der Aussenseiter, wir haben dies nur
zusehends vergessen. Insbesondere, wenn so ein Aussenseiter kein
Feindbild artikuliert. Den Eltern etwa dankt FKA twigs. Guter Ton,
besonders im heutigen R&B mit seinen Strebertypen. Doch wenn man
ihr zuhört, versteht man. Keine engagierten Antreiber, die den
Tagesplan ihres zukünftigen Karrieristen durchplanten, sondern
Eltern, die Freiräume liessen, Selbstbewusstsein vermittelten und
die erträumte klassische Tanzausbildung ermöglichten: „Ich
verstand durch das Tanzen, dass in einem Stück alles möglich ist,
man kann plötzlich das Tempo variieren oder die Sounds, man ist
frei, muss nicht allen Details des Songs folgen. Das gab mir einen
anderen Blick auf die Grenzen, an die sich so vieles in der Popmusik
hält.“
Nicht
oft vermag ein Künstler sein Tun so genau zu erklären. Doch in
ihrem physischen Verstehen der Musik, erkennt man die langsamen, gar
nicht so eingängige Stücke. Vertonter Tanz, nicht Tanzmusik,
sondern die beweglichen Skulpturen des Ballets, zurück in Musik
überführt. Klingende Charaden. In der damit gestifteten Verwirrung
lagen Assoziationen zur jungen Kate Bush nah. Erst
kürzlich, in Sendungen zu Alfred Biolkes 80. Geburtstag, konnte man
wieder jenen Moment erleben, als die 19 jährige Kate anno 1978 in
„Bios Bahnhof“ exzentrisch tanzend „Wuthering Heights“
vortrug und eine Weltkarriere begründete. Doch FKA twigs
wird wohl nie, wie kürzlich Bush, 22 Shows im Londoner Hammersmith
Apollo innerhalb von 15 Minuten ausverkaufen, sie ist auch kein
musikalisches Wunderkind. Da ist etwas anderes was sie ausmacht,
gestischer vielleicht. Ihre Teenager-Helden waren die „New
Romantics“ der frühen 80er. Jene Clubkultur, mit der Ex-Punks
einen extrem artifizellen Glam schufen, mal spielerisch wie Adam &
the Ants, oft düster wie Visage, doch stets bemüht, möglichen
Festlegungen zu entkommen. Hier assoziiert sich FKA twigs: „Die
New Romantics konnten heute so, morgen so stylen und geben, gerade
wie es der Stimmung entsprach. Ich denke diese experimentelle
Freiheit habe ich mir bewahrt. Ich denke was blieb ist, daß ich
Flamboyant sein kann, wann immer ich mag, ob im Sound oder als
Ästhetik. Eine Freiheit die ich bei Malcolm McLaren oder Siouxsie
and the Banshees fand.“
Eine
unwillkürliche Assoziation
erinnert an das (noch nicht sehr neu romantische) Debüt-Album von
Siouxsie and the Banshees: „The Scream“. Ein monolithisches
Manifest, so eingebunden wie fremd in seiner Welt des Jahres 1978.
Ein eigener, anfangs gleichförmig scheinender und sich dann
zusehends öffnender Kosmos, so wie FKA twigs nun erscheinendes
erstes Album. Das Young Turks Label (zu Geld gekommen mit der Band
The XX) lies ihr den Freiraum, den eine große Plattenfirma einer
junge Frau mit ihrer Stimme und Charisma
nie zugestanden hätte. Man denke an ein vergleichbares Internet
Phänomen, die Sängerin und Rapperin Azealia Banks. Nach ihrem Stück
„212“ anno 2011 wie wild umworben, unterschrieb sie bei Universal
Music. Die Veröffentlichung eines Albums wurde dann nahezu zwei
Jahre hinausgezögert, sicher begleitet von endlosen Meetings zu
Stilfragen und Hitpotenzial. Am 11. Juli diesen Jahres verkündete
die Künsterin, ihr Vertrag sei aufgelöst und sie endlich frei.
Das
Neue an Azealia Banks Stil war eine Referenz an die ganz frühen
90er, die Kultur des Vogueing und den kurzlebigen Stil Hip-House.
Darüberhinaus präsentierte sie sich nicht so fern der stereotypen
Bling Bling Kultur des R&B. Anders FKA twigs. Mag es an der seit
jeher größeren Offenheit britischer Pop-Kultur liegen, am
Identitätenspiel der New Romantics oder am Rolemodel jener Szene,
der sehr jungen und nicht weniger eigensinnigen Annabella Lwin, einst
Sängerin der Band Bow Wow Wow, deren Look
FKA twigs als Teenie revivalte. Eine Prägung jenseits der Welt aus
Gucci Accessoires, eher dem verbunden, was New Romantic Veteranen
veranlasste, einen Blog mit Photos aus alten Tagen „The Dangers of
going home“ zu betiteln. „Oh, ja! Das stimmt genau! Ich lebte
im Süden von London. Meine Freunde und ich gerieten oft in
Auseinandersetzungen, ich bin dann in den Kiosk an der Ecke geflohen
und der Besitzer eskortierte mich heim, wenn ich verfolgt wurde. Am
Ende zeigt es nur, ob Du die Intoleranz der Anderen
ertragen kannst.“
Solch
ein Leben kennt andere Statements des Selbst, als sie der R&B in
den vergangenen Jahren zu bieten hatte. Nicht die Toughness der
jungen Frau, die sich alles selber kaufen kann, nichts, was sich so
einfach etikettieren liesse, dafür eine neuer Sound: „Das
hat mitunter fast was irres, da scheint es mir, als gäbe es eine
unendliche Kraft in der Musik, aber das muss ich nicht proklamieren,
in dem ich davon singe, wie unabhängig ich doch sei. Ich denke es
ist offensichtlich das ich ein starkes Mädchen, na, fast Frau, bin.
Ich schreibe meine Stücke, produziere sie und bin der Regisseur
meiner Videos und ich habe meinen eigenen Stil geschaffen. Ich fühle
mich auf eine ruhige Art sehr selbstbewusst in dem, was ich mache,
aber ich denke Verletzlichkeit ist sexy. In dem Moment, in dem Du sie
zugibst, zeigst Du zugleich Stärke.“
So
macht es ihr nichts, sich als Lernende zu beschreiben, die von der
Zusammenarbeit mit Leuten wie mit dem hippen venezolanischen
Produzenten Arca und ihrem Labelkollegen Sampha profitiert und jeden
Tag Neues in den Möglichkeiten der Software Ableton entdeckt. Sie
weiss, dieses Album ist ein Statement. Aber eines in den Regeln von
Pop, nicht denen der Universität oder der Politik. So kreist man um
diese sonische Fragilität, um das was sie andeutet und nicht
explizit sagen mag. Ein Leichtes, sie in ihrem Nicht-Entsprechen
anzugreifen, ihr die Ambivalenz der Videos oder die Passivität in
manchen Texten vorzuhalten. Doch genau das ist Pop: Er überwindet
dogmatische Zuschreibungen, rüttelt an Identitäten und versetzt
Grenzen. Dabei ist sie nicht ganz allein, man
findet das Zerbrechliche im Sound des Projekts Paco Sala und das
Düstere beim kanadischen Duo Evy Jane, Spuren sogar im weit
rustikaleren R&B der kalifornischen Chart-Hoffnung Banks.
Doch
lange keine Musik mehr gehört, die so wenig passt, sich Genres
entzieht und so das Herz der Popmusik schlagen lässt: das Recht, auf
sich selbst, das Recht, nicht zu passen. FKA twigs erfindet sich, wir
hören und schauen ihr zu, vielleicht erweitert sie dabei sogar ein
wenig unsere eigene Welt.